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Joe Lovano – Musik von gebündelter Intensität und expressiver Schönheit

Nach annähernd dreißig Jahren als Blue-Note-Künstler legt der Saxophonist Joe Lovano mit “Trio Tapestry” nun sein erstes Album unter eigenem Namen bei ECM vor.
Joe Lovano
Joe LovanoJimmy Katz / ECM Records
25.01.2019
Joe Lovano zählt zu den ganz großen Tenorsaxophonisten unserer Zeit. Seit er Paul Motian 1981 bei der Einspielung des Klassikers “Psalm” begleitete, konnte man Lovano auf einer ganzen Reihe von wichtigen ECM-Alben erleben. Sei es als Sideman von John Abercrombie, Marc Johnson und Steve Kuhn oder als Mitglied von Motians brillantem langjährigen Trio, das von Bill Frisell komplettiert wurde. Mit “Trio Tapestry” legt Lovano nun bei ECM endlich sein erstes Album als Leader vor. Eingespielt hat er es mit einem exzellenten neuen Trio, in dem die Pianistin Marilyn Crispell und der Schlagzeuger Carmen Castaldi seine kongenialen Partner sind. “Trio Tapestry” ist ein Album von gebündelter Intensität und expressiver Schönheit. Das Repertoire besteht aus elf neuen Kompositionen des Saxophonisten. “Es sind”, so sagt er, “einige der intimsten und persönlichsten Stücke, die ich bis dato aufgenommen habe.”
Auf dem von Manfred Eicher im New Yorker Sear Sound Studio produzierten Album stützt sich Lovano auf seine eigene Geschichte und Entwicklung als Musiker, der sich sowohl mit der Jazztradition als auch mit der explorierenden Improvisation beschäftigt hat. “Für mich ist diese Aufnahme ein Statement darüber, wo ich mich befinde, wo ich schon war und wohin ich mich bewegen könnte.” Im CD-Booklet merkt er über die Aufnahme an: “Das göttliche Timing von Zusammenspiel und Interaktion ist magisch. ‘Trio Tapestry’ ist ein durchgehender melodischer, harmonischer, rhythmischer Klangteppich, der Stimmungen und Atmosphären trägt.”
Jedes der Stücke erblüht hier aus einem melodischen Kern, der durch Zwölftonprozesse geprägt wird, eine Methodik, die Lovano durch seine lange Zusammenarbeit mit dem Komponisten Gunter Schuller zu schätzen gelernt hat. “Marilyn Crispell hat auch in dieser Welt gelebt. Sie hat eine Menge zeitgenössische Kompositionen gespielt und ausgiebig mit Anthony Braxton gearbeitet. Wir konnten bei unserer Zusammenarbeit in diesem Klangrahmen also wunderbar miteinander kommunizieren.” Die Farben und Texturen der Musik mögen zwar an ein kammermusikalisches Ambiente erinnern, aber die Musiker selbst sind “tief im Jazz verwurzelt, erkunden die Gefühle der anderen in den Improvisationen und machen Musik innerhalb der Musik. Ich habe das Material eingebracht und hatte eine Vorstellung davon, was mit ihm passieren sollte. Aber beim Spielen tragen wir alle gleich viel zu dieser Musik bei. Wir harmonieren auf eine wirklich besondere Weise.” 
Die Pfade von Crispell und Lovano kreuzten sich das erste Mal Mitte der 1980er Jahre, als die Pianistin – neben Gerry Hemingway und John Lindberg – Mitglied von Anthony Braxtons Quartett war. “Sie haben zufällig in einem Studio aufgenommen, das Tür an Tür mit meinem New Yorker Loft war. Wir lernten uns damals kennen und blieben in Kontakt.”  Zirka 2006 verstärkte Joe Marilyns Trio (mit Mark Helias und Paul Motian) bei einem Auftritt im Village Vanguard. Danach folgte ein Quartett-Konzert im New Yorker Miller Theater, bei dem Kompositionen aller vier Musiker gespielt wurden. “Das war das erste Mal, dass ich ein ganzes Konzert mit Marilyn spielte.” Das Potenzial für weitere musikalische Erkundungen war offensichtlich und konnte jetzt auf “Trio Tapestry” endlich ausgeschöpft werden.
Carmen Castaldi und Joe Lovano wuchsen zusammen in Cleveland auf und spielten bereits als Jugendliche miteinander. 1971 zogen sie gemeinsam nach Boston, um am Berklee College zu studieren. Als Joe dann Mitte der 70er Jahre nach New York ging, machte sich Carmen auf den Weg an die Westküste, wo er für die nächsten Jahrzehnte zu Hause war. Seit Castaldis Rückkehr nach Ohio ist die Zusammenarbeit zwischen den beiden Freunden wieder intensiver geworden. Der Schlagzeuger spielte auf Joes Blue-Note-Album “Viva Caruso” und tourte viel mit Lovanos Street Band, die außerdem mit Judy Silvano, Gil Goldstein, Ed Schuller und Erik Friedlander besetzt ist. “Carmen ist am Schlagzeug ein wunderbarer Freigeist, ein totaler Improvisator, der sein Leben lang von Paul Motian inspiriert wurde. Ich war wirklich froh, ihn auf dieser Aufnahme dabeizuhaben, die für mich mehr ‘eine Session’ ist. Sie bietet Raum für eine Art des Spielens und Interagierens, die Carmen und ich über sehr viele Jahre hinweg gemeinsam entwickelt haben.”
Castaldis subtiles Schlagzeugspiel unterstützt die Dialoge zwischen Saxophon und Klavier, schmückt sie aus und kommentiert sie. Ein weiteres strukturelles Element, das den Charakter des Mysteriösen der Musik verstärkt, steuert Lovano mit seinen Gongs bei. “Ich begann dieses Konzept bereits in den 1980er Jahren zu entwickeln, spielte Tenorsaxophon und begleitete mich auf Gongs. Mit einem Schlägel in der rechten Hand schuf ich auf den Gongs verschiedene Tonalitäten und Schlüsselzentren, von denen aus ich improvisierte.”
Einen Platz in Lovanos Musik hat in den letzten fünfzehn Jahren auch der “seelenvolle Schrei” des ungarischen Tàrogatò gefunden. Es scheint wie geschaffen für getragene oder schmachtende Meditationen. Tàrogatò spielte Joe beispielsweise 2008 auf Steve Kuhns ECM-Album “Mostly Coltrane” in dem Stück “The Spiritual”. Für “Trio Tapestry” nahm er mit dem Instrument nun das Stück “Mystic” auf.
Cecil Taylor lobte Marilyn Crispell einmal dafür, dass sie die “Protagonistin eines neuen Lyrismus” in der kreativen Musik sei. Lovano schwärmt von dem “erstaunlichen Klang, Anschlag und Wortschatz” der Pianistin und ist froh, dass er ihr auf diesem Album einen Kontext für ihre expressive Stimme geben konnte. Crispell ist bei ECM natürlich schon seit mehr als zwanzig Jahren eine etablierte Größe. Unter eigenem Namen spielte sie für das Label u.a. Trio-Alben mit Paul Motian und Gary Peacock (“Nothing Ever Was, Anyway” und “Amaryllis”), ein Duo-Album mit Peacock (“Azure”) und das Solo-Klavieralbum “Vignettes” ein.
Bevor Lovano mit “Trio Tapestry” als Leader bei ECM debütierte, war er beinahe dreißig Jahre lang bei Blue Note unter Vertrag, wo er zahlreiche Alben in den unterschiedlichsten Formaten herausbrachte: das Spektrum reichte von Duos (z.B. mit Hank Jones) bis zu großen Ensembles (das mit einem Grammy ausgezeichnete Album “52nd Street Themes”).
Derzeit befindet sich Joe Lovano mit “Trio Tapestry” auf einer ausgedehnten Tournee durch die USA. Im Mai kommt er dann mit Crispell und Castaldi auch für drei Konzerte nach Deutschland: am 15. Mai wird das Trio Tapestry im Pierre Boulez Saal in Berlin gastieren, am 17. Mai in der Münchener Unterfahrt und am 18. Mai beim Jazzfest Bonn in der Bundeskunsthalle.
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