ERIK TRUFFAZ
Face-À-Face
Seit seiner ersten Veröffentlichung auf Blue Note im Jahre 1996 ist Erik Truffaz einen weiten Weg gegangen – metaphorisch und wortwörtlich gesprochen. Die vergangene Dekade hat der Trompeter zum Großteil in Flugzeugen, Zügen und Automobilen zugebracht, in denen er auf seinen nicht endenden Tourneen von Konzert zu Konzert reiste. Die Strapazen des Globetrotters nahm er dabei gern auf sich, ermöglichte ihm die unermüdliche “Wanderschaft” doch Begegnungen mit vielen interessanten Musikern. So kam es etwa zu Kooperationen mit Elektronik-Altvater Pierre Henry, Oud-Spieler Anouar Brahem, Imhotep von der Gruppe IAM, Rapper Carlos (Sens Unik), Saxophonist Michael Brecker und DJ Alex Gopher.
Wäre Truffaz an einem Ort fest verwurzelt geblieben, hätte er auch nicht vor Zuhörern unterschiedlichster Herkunft auftreten und sie mit seiner Musik vertraut machen können. Gerade diese Zusammenkünfte sind ihm jedoch sehr wichtig, stellt doch jeder Live-Gig eine Möglichkeit dar, den Fans “face à face”, von Angesicht zu Angesicht, zu begegnen. Es ist der Dialog zwischen ihm und dem Publikum, wonach er an allen Spielstätten der Welt sucht, weil er dort die Quelle seiner Inspiration findet. Im Idealfall kommt es beim direkten Kontakt zu Momenten voller Magie. “Face-À-Face”, die jüngste Veröffentlichung des gebürtigen Schweizers, versammelt genau solche Momente. Obwohl die vorliegenden Sound-Souvenirs von den Tourneen aus dem Zeitraum 2003 bis 2005 an mehreren Orten (Lausanne, Toulon, Rosporden, Rennes, Genf) mitgeschnitten wurden, ist doch alles aus einem Guss.
Die beiden CDs des zweieinhalbstündigen “Reisetagebuchs” repräsentieren Seite an Seite jene Gruppen, um die herum Erik Truffaz in den letzten Jahren seine Karriere aufgebaut hat. Auf Disc 1 ist seine Formation Ladyland mit den französischen Freigeistern Manu Codjia (Gitarre), Michel Benita (Bass) und Philippe Garcia (Schlagzeug) zu hören. Mit ihnen macht sich Truffaz – wie schon beim Album “Mantis” (2001) – in die arabische Klangwelt Nordafrikas auf. Disc 2 ist Truffaz' Quartett mit Drummer Marc Erbetta, Bassmann Marcello Giuliani und Pianist Patrick Muller vorbehalten, das ihm bereits in den Neunzigern bei seiner Entwicklung eines neuen Klangkonzeptes zwischen Jazz, Fusion und Drum’n'Bass half. Dazu kommt dann gelegentlich mit Nya (bekannt von Silent Majority) noch ein wortgewaltiger Rapper. In dieser Besetzung werden hier diverse Stücke interpretiert, die man von früheren Truffaz-Alben kennt. Dabei fällt freilich auf, dass Tracks wie “Sweet Mercy”, “King B”, “Wilfried”, “Arroyo” stete Veränderungen erfahren haben. Truffaz und seine Mitstreiter erfinden ihr Repertoire sozusagen jeden Abend aufs Neue, entwickeln es in den Monaten on the road ständig weiter – weshalb sich die Bühnenfassungen auf “Face-À-Face” denn auch von den Originalen mitunter kräftig unterscheiden.
Erik Truffaz ist seit jeher ein Wanderer zwischen den musikalischen Welten, er kennt keine Stilbarrieren. Das haben all seine Werke von “Out Of A Dream” (1997) und “The Dawn” (1998) über das weltweit mehr als 100.000 Mal verkaufte “Bending New Corners” (1999) bis zu “Revisité” (2001) und “The Walk Of The Giant Turtle” (2003) gezeigt. An der Discographie lässt sich im Nachhinein der Entwicklungsprozess des Schweizers gut ablesen. Wie gesagt: Der Sohn eines Berufssaxophonisten, der am Conservatoire de Chambéry studierte, ist einen weiten Weg gegangen. Er befand sich im Laufe seiner Karriere häufig auf der Überholspur, ab und zu machte er auch einen Umweg, nur ganz selten legte er einen Boxenstopp ein. Von seinem Ziel, das Jazzgenre zu öffnen und es mit Elementen aus dem HipHop, Dub und Drum’n'Bass von Grund auf zu erneuern, ließ er sich allerdings nie abbringen. Auf dem jüngsten Doppelalbum begeistert der Grenzgänger nun einmal mehr mit seinem Innovationswillen und einer überbordenden Experimentierfreude. Nicht zuletzt deswegen ist “Face-À-Face” ein weiterer Beleg dafür, dass man Erik Truffaz völlig zu Recht zu den wichtigsten Exponenten des europäischen New Jazz zählt.
April 2006