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Thomas Strønen’s Time Is A Blind Guide – lichte Improvisationen mit leicht fernöstlicher Note

Die ebenso brillante wie junge japanische Pianistin Ayumi Tanaka verleiht der Musik von Thomas Strønens Akustik-Kollektiv Time Is A Blind Guide auf “Lucus” aufregende neue Klangfarben.
Thomas Strønen, Ayumi Tanaka, Håkon Aase, Ole Morten Vågan, Lucy Railton
Thomas Strønen, Ayumi Tanaka, Håkon Aase, Ole Morten Vågan, Lucy RailtonD. Vass / ECM Records
19.01.2018
Als  faszinierendes Beispiel für Jazz-Crossover bezeichnete John Fordham im Guardian das erste Album von Thomas Strønens Akustik-Kollektiv Time Is A Blind Guide. Nun hat der norwegische Schlagzeuger und Komponist das Ensemble für das zweite Album “Lucus” vom Septett zum Quintett getrimmt und den Schwerpunkt verstärkt auf Improvisation gelegt. Für den britischen Pianisten Kit Downes – der, wie es der Zufall will, diese Woche mit dem Album “Obsidian” sein ECM-Solodebüt gibt – ist außerdem die aus Japan stammende Ayumi Tanaka ins Ensemble gerückt.
“Wir haben sehr viel mehr gespielt”, sagt Strønen, “und Vertrauen in das Ensemble aufgebaut. Die Musiker haben allesamt mehr Vertrauen in den gemeinsamen Ausdruck der Gruppe und sind,  im positiven Sinne, weniger abhängig von den Kompositionen, die wirklich nur als Leitlinien dienen sollen. Mir ist wichtig, dass sich die Spieler der Musik verbunden fühlen und das spielen, was für sie richtig ist. Als ich die Musik für das erste Album schrieb, existierte der Gruppenklang nur in meiner Vorstellung, weshalb ich damals sehr viel mehr Noten zu Papier brachte.
Aber beim Repertoire von ‘Lucus’ ist alles offener. Und es gibt mehr als einen Weg, diese Stücke zu interpretieren: Eine Nummer, die bei einem Konzert in einer Nacht als Ballade gespielt wird, könnte in der nächsten Nacht geradezu explodieren.”
Die Musik, die Strønen für das Ensemble geschrieben hat, ist raumbewusster als beim letzten Mal und lässt – ganz im Sinne des Albumtitels “Lucus” (lateinisch für einen einer Gottheit geweihten Hain oder eine Waldlichtung) – mehr Licht einfallen. Die strahlenden Streicher scheinen diese Idee besonders hervorzuheben. (Ins Bild fügt sich auch, dass Strønen, der in einem norwegischen Waldgebiet  lebt, die Musik mit Blick auf den Wald komponierte.
Auf Ayumi Tanaka wurde Strønen vor ein paar Jahren aufmerksam, als er an der Königlichen Akademie in Oslo unterrichtete, wo er auch eine Konzertreihe organisierte. “Mir gefiel es, die Studenten vor Herausforderungen zu stellen. Deshalb bat ich Ayumi ein Solokonzert zu geben. Das war etwas, was sie noch nie zuvor gemacht hatte. Ihre Performance war schlicht verblüffend, und ich dachte mir sofort, dass ich mit ihr einmal in irgendeinem Rahmen zusammenspielen müsste.” Als Strønen mit der ersten Ausgabe von Time Is A Blind Guide spielte, sprang Tanaka bei einigen Auftritten schon für Kit Downes ein.  “Als sie zur ersten Probe kam, kannte sie schon das gesamte Material. Sie hatte einfach nach Gehör ein Dutzend komplexer Stücke mit kniffligen Taktwechseln einstudiert und brauchte überhaupt keine Notenblätter.” Als der Klavierstuhl in dem Ensemble später neu besetzt werden musste, war sie die logische Wahl. “In der Art, wie sie sich innerhalb des Gruppenklangs bewegt, spüre ich eine Verbindung zwischen europäischer zeitgenössischer Musik und Jazz und japanischer Musik”, meint Strønen.
“Sie kann in ihrem Spiel sehr abstrakt sein und mit einer sparsamen Zurückhaltung spielen, die ich sehr mag, und dann im nächsten Moment voller Temperament zur Sache zu gehen.” In einigen von Ayumis Wendungen, Paraphrasen und Ellipsen kann man vielleicht auch eine Verbindung zum frühen Paul Bley heraushören. Wie eine Anspielung auf die Aufbruchsphase des New Jazz wirkt außerdem Ole Morten Vågans an Charlie Haden erinnernde Bass-Intro zu dem Stück “Tension”.
Aber Time Is A Blind Guide ist ein flexibles, sich veränderndes Ensemble. Wie schon auf dem ersten Album bringen sich die Streicher auch diesmal wieder hervorragend ein. Mal schält sich aus dem Quintett das Streichtrio mit Geiger Håkon Aase, Cellistin Lucy Railton und Kontarbassist Ole Morten Vågan heraus, dann wieder das Klaviertrio mit Strønen, Tanaka und Vågan, wobei letzterer als Bindeglied zwischen den beiden Trios agiert. Der Name des Ensembles geht übrigens auf den Roman “Fugitive Pieces” (deutscher Titel “Fluchtstücke”) der kanadischen Schriftstellerin Anne Michaels zurück. Darauf deutet Strønen auch mit einem Stück gleichen Namens hin, in dem die Streicher sowohl auf Folk- als auch auf Barockmusik zu verweisen scheinen, bevor das Klavier einsetzt, um die Musik sanft an einen anderen Ort zu führen.