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Musikalischer “Konfuzianismus” – in der Ruhe liegt die Kraft

Mit “Silent, Listening”, seinem ersten Soloalbum für ECM, legt der US-amerikanische Pianist Fred Hersch ein von Spontaneität und Klangsensibilität geprägtes Meisterwerk vor, das Hörer vom ersten bis zum letzten Ton fesseln wird.
Fred Hersch
Fred Hersch
18.04.2024
Wohl kein anderer Jazz-Label-Katalog enthält so viele exzellente und innovative Soloklavieraufnahmen wie der von ECM Records. Jetzt ist dem Pianisten Fred Hersch mit “Silent, Listening” ein ausgesprochen persönliches Album gelungen, das diesen Katalog um ein weiteres Highlight bereichert. Hersch, der laut DownBeat zu den brillantesten Musikern seiner Generation zählt, legt den poetischen Schwerpunkt hier auf hellwache, offene Improvisationen, streut in den kreativen Bogen des Albums zugleich aber auch Eigenkompositionen und eine Handvoll exquisiter Standards ein. Indem er ausformulierte Songs und ad hoc komponierte Stücke miteinander mischt, beschwört Hersch eine musikalische Stimmung herauf, die er als “nächtlich” beschreibt.
“Ich halte weiterhin an der Idee fest, dass ein Album ein in sich abgeschlossenes musikalisches Statement sein sollte”, sagt er und fügt an, dass dies eine Sichtweise ist, die im Zeitalter der Ungeduld verloren gegangen sei. “Für mich muss ein Album eine Geschichte erzählen.” “Silent, Listening” baut auf Herschs Zusammenarbeit mit Manfred Eicher auf, die ihren Anfang im November 2021 nahm, als der Pianist mit dem italienischen Trompeter Enrico Rava für ECM das Duo-Album “The Song Is You” einspielte.
“Die Dinge, die mich in meinem Leben als Jazzmusiker am meisten erfüllt haben, waren jene, die am organischsten entstanden sind”, meint Hersch. "Und bei der Aufnahme mit Enrico, die sehr spontan gemacht wurde, fiel mir auf, dass etwas Besonderes vor sich ging. Danach wollte ich unbedingt ein Soloalbum mit Manfred als Produzent einspielen, im selben Saal – wo die Akustik, in meinen Ohren, nahezu perfekt ist – und am selben Klavier."
Und so kehrte Hersch im Mai 2023 ins Auditorio Stelio Molo RSI in Lugano zurück. “Im Kopf hatte ich bereits eine Vorstellung davon, welche meiner Stücke ich spielen wollte”, erzählt der Pianist. “Und auch ein paar Ideenschnipsel, die als Startrampe für Improvisationen dienen könnten.
Das Titelstück ‘Silent, Listening’ zum Beispiel enthält am Anfang und Ende komponiertes Material. Aber dazwischen improvisiere ich frei über die Motive und die Stimmung des Stücks.”
“Little Song” ist eine Komposition, die Hersch ursprünglich für das Duo mit Rava geschrieben hatte, die aber erst hier ihre Aufnahmepremiere erlebt. Zu den vier Standards, die er für das Repertoire von “Silent, Listening” auswählte, sagt Hersch: “Ich hatte keine Ahnung, dass ich sie spielen würde. Sie kamen mir in diesem Moment einfach irgendwie in den Sinn, und dann entstanden die spontanen Kompositionen als Ausgleich zu den Stücken.” Um letzteren einen Namen zu geben, hatte Hersch anhand einer Monographie eine Liste mit Werktiteln des Malers, Grafikers, Fotografen und Objektkünstlers Robert Rauschenberg zusammengestellt und mitgenommen. Seine Wahl fiel u.a. auf “Volon” und “Aeon”. “Rauschenberg hatte immer ein gutes Händchen für Titel”, meint Hersch.
“Ich spiele hier ein bisschen mehr im Inneren des Flügels, als ich es normalerweise tue”, sagt Hersch über die erkundenden, frei strukturierten Stücke. “Die Leute assoziieren mich nicht unbedingt mit freien Improvisationen, aber es ist tatsächlich etwas, das ich im Laufe der Jahre oft getan habe. Die Aufnahme mit Enrico enthält auch eine eine solche Improvisation, die sehr gut funktioniert hat. Und Manfreds sehr positive Reaktion darauf hat mich dazu ermuntert, weiter in diese Richtung zu gehen und auf dem Soloalbum wechselweise ausformulierte Songs und spontan komponierte Stücke zu spielen.”
Den Grundton des Albums setzt Hersch gleich zu Beginn mit einer sparsamen, geisterhaften Interpretation von Billy Strayhorn und Duke Ellingtons “The Star-Crossed Lovers”, die nicht weit von der Melodie abweicht. “Es ist eine so schöne Melodie, und manchmal reicht es einfach, eine Melodie nur vorzutragen. Ich habe das Stück durch Jimmy Rowles kennengelernt, der den Song oft gespielt hat, so wie auch Tommy Flanagan. Die beiden lernte ich gut kennen, als wir alle im Bradley’s in New York auftraten. Und 1985 hatte ich bereits einmal eine Version von ‘The Star-Crossed Lovers’ für mein allererstes Soloalbum aufgenommen.”
“The Winter Of My Discontent” ist ein Stück, das Hersch zu spielen begann, nachdem er 1978 den Komponisten Alec Wilder kennengelernt hatte. "Wilder nahm mit mir Kontakt auf – wie’s der Zufall will, auch im Bradley’s – und schickte mir Bücher mit seinen Liedern, und dieses Stück spiele ich seitdem in verschiedenen Formaten, unter anderem im Duo und Trio [eine Duo-Aufnahme machte er 1984 mit der Sopransaxophonistin Jane Ira Bloom für das Album ‘As One’]. Die Stimmung der Musik, die ich bei der Aufnahmesession in Lugano spielte, schien wie geschaffen für eine neue Interpretation."
“Softly As In A Morning Sunrise” verbindet Fred Hersch “auf immer mit Sonny Rollins’ ‘A Night At The Village Vanguard’. Sonnys Version ist für mich der Goldstandard. Sonny Rollins ist, offen gesagt, mein Held. Er hat alles, was einen Jazzmusiker ausmacht, und ich bin stark von ihm beeinflusst worden.”
“Akrasia” ist ein Beispiel für eine Hersch-Komposition, die im Studio ein zweites Leben angenommen hat. Unter Akrisia versteht man, wenn jemand wider besseren Wissens handelt. Hersch spielt mit dem Titel auf sein eigenes Verhalten während des Corona-Lockdowns an, als er, so gesteht er, zu viel Zeit mit Krimis und Computerspielen verbrachte. “Du weißt genau, dass du es nicht tun solltest, aber… Wie auch immer, ‘Akrasia’ ist eigentlich eine längere Komposition, und als wir in Lugano mit der Aufnahme des Stücks begannen, bemerkte ich plötzlich, dass die Notenblätter auf den Boden gefallen waren und ich sie nicht mehr sehen konnte. Also spielte ich den Anfang des Stücks und improvisierte danach einfach immer weiter und verwandelte es so in etwas Unerwartetes, das uns aber interessant zu sein schien.”
Diese Offenheit gegenüber Unvorhersehbarem und die Bereitschaft, den Fluss der Dinge zu respektieren, spiegelte sich laut Hersch auch in seiner Interpretation von Russ Freemans “The Wind” wider, die eine der bezauberndsten Passagen des gesamten Albums bietet. Sein jüngeres, perfektionistisches Ich, so meint der Pianist, hätte sich vielleicht gegen seine etwas skizzenhaften Ausarbeitung der Melodie gesträubt. Aber mit seinen 68 Jahren versuche er, “nicht mehr alles bis ins kleinste Detail auszuarbeiten. Was wir erhalten haben, war ein großartiger erster Take,” – sanft, aber voller Gefühl – “den wir nie mehr mit demselben Geist hätten einfangen können.” (Eine weitere großartige Interpretation dieses wunderbaren Stücks findet man auf Keith Jarretts “Paris Concert”.)