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Dino Saluzzi – Reflexionen über die Vergänglichkeit der Zeit

Mit “Albores” legt der argentinische Bandoneón-Maestro und Komponist Dino Saluzzi mehr als dreißig Jahre nach “Andina” erstmals wieder ein reines Soloalbum vor.
Dino Saluzzi
Dino SaluzziJuan Hitters / ECM Records
04.11.2020
Das im vergangenen Jahr in Buenos Aires eingespielte Album “Albores” (“Morgendämmerung”) ist sicherlich eine von Dino Saluzzis intimsten Aufnahmen. Der großartige argentinische Bandoneón-Spieler präsentiert sich hier allein mit dem Instrument, das ihn seit seiner Jugend konstant begleitet hat.
Seit annähernd 40 Jahre dokumentiert ECM Records nun schon Saluzzis Schaffen. Auf eigenen Alben oder als Partner anderer Künstler/innen präsentierte er sich dabei in einer Reihe von sehr unterschiedlichen kreativen Kontexten. Doch seinen Einstand bei ECM hatte Saluzzi 1982 als Solist auf dem Album “Kultrum” gegeben, dem 1988 mit “Andina” ein weiteres unbegleitetes Soloalbum folgte. Danach machte er für ECM unter eigenem Namen Aufnahmen im Duo- oder Trio-Format, mit seiner Familienband, dem Rosamunde Quartett und dem Metropole Orkest. Seine Bandoneón-Selbstgespräche üben aber immer noch eine besondere Faszination aus. Wenn man Dino Saluzzi solo spielen hört, ist es, als höre man ihm beim lauten Nachdenken zu. Denn dann spürt der 85-Jährige in seiner Musik den Aspekten eines langen Lebens nach und sinniert über Freundschaften sowie Spirituelles, wobei er sich sowohl von der Kunst als auch von der Alltagsrealität inspirieren lässt. Wie der Schriftsteller Jorge Luis Borges, der eine seiner fortdauernden Referenzen ist, verbindet Saluzzi bei der Erschaffung seiner eigenen Welt Erinnerungen, Meditationen und phantasievolle Ausbrüche miteinander. “‘Albores’ ist das Ergebnis von mehr als sechs Jahrzehnten, in denen er Musik als Produkt von Vernunft und Wahrnehmungsvermögen erkannt hat”, schreibt Luján Baudino im Begleittext, “der Akt des Einfangens von Gefühlen in der Tiefe der Seele.”
Saluzzi wird oft als “Geschichten erzählender” Musiker charakterisiert, dessen Schilderungen vielschichtig und anspielungsreich sind.  Das Album beginnt mit “Adiós Maestro Kancheli”, einer Hommage an den georgischen Komponisten Giya Kancheli, der letztes Jahr verstarb. 2010 hatte Saluzzi einige von Kanchelis Kompositionen für das Album “Themes From The Songbook” aufgenommen. In seiner andächtigen Hommage auf “Albores” spielt Saluzzi auf die Musik der Anden an, die sich weit entfernt vom georgischen Kaukasusgebirge erheben. Vielleicht hat er dies getan, um die Zusammengehörigkeit mit einem anderen Komponisten anzuerkennen, dessen natürlicher Lebensraum auch nicht das Konservatorium war.
In seiner Musik bezieht sich Dino Saluzzi seinerseits oft auf die kleinen Dörfer seiner Kindheit und die Arbeiterviertel von Buenos Aires in seinem goldenen Zeitalter. Er ist sowohl ein Poet der Straße als auch des Landlebens. “Íntimo” malt ein Bild des “Frühlings, der sich in den Lichtern eines längst vergangenen Buenos Aires widerspiegelt”. In “Don Caye – Variaciones sobre obra de Cayetano Saluzzi” erinnert er an die Klänge der Musik seines Vaters, jene Klänge, die Dino dazu brachten, sich selbst auf seine lange Reise zu begeben. “Wir erhielten keine Informationen über das Radio oder durch Alben”, erinnert er sich, “und als ich sehr jung war, wussten wir nichts über akademische Musik oder sinfonische Musik oder feierliche Konzerte. Aber meinem Vater gelang es trotzdem, mir eine musikalische Ausbildung zu vermitteln.”
In “La Cruz del Sur” greift Saluzzi auf das zurück, was Lújan Baudino im Booklet-Text des Albums “den Klang der Vorfahren” nennt: “Die Melodie drückt die Trauer aus, die für die Geschichte Lateinamerikas charakteristisch ist. Sie durchdringt Saluzzis Klang, so dass er sich seiner Ursprünge bewusst bleibt.”