Dave Holland | News | Dave Holland Quintet - Critical Mass

Dave Holland Quintet – Critical Mass

18.10.2006
Dave Holland befindet sich in einem ständigen Dialog mit der Jazztradition. Stets versucht er, das, was er im gesamten Verlauf seiner Karriere gelernt hat, einzubringen und es auch im zeitgenössischen Kontext relevant klingen zu lassen. Diese Erfahrungen spiegeln sich auf “Critical Mass” wider, dem ersten Album des Dave Holland Quintet seit drei Jahren. “Ich versuche wirklich all die Sachen, die ich gelernt habe und die Teil meines Erfahrungs-
schatzes sind, miteinander zu verbinden”, meint der Kontrabassist. “In der Musik, die ich spiele, bringe ich all diese Dinge zur Geltung.”
Beharrlichkeit und Konsequenz ziehen sich wie ein roter Faden durch die musikalische Karriere Dave Hollands, der am 1. Oktober seinen 60. Geburtstag gefeiert hat. “Ich hatte sehr viel Glück, daß ich in der Lage war, mein Ding so lange durchziehen zu können”, sinniert der Bassist. “In den schwierigen Zeiten, in denen man mit den Anforderungen der Musikindustrie hadert und die nächste Mietzahlung fällig ist, wird man wirklich auf die Probe gestellt. Jeder Musiker muß seine eigene Entscheidung darüber treffen, wozu seine Musik dienen soll. Wenn man die Verpflichtung eingeht, seiner eigenen musikalischen Stimme treubleiben zu wollen und nicht der Versuchung irgendeines fantastischen Angebots zu erliegen… dann geht die Musik daraus gestärkt hervor. Das ist eine Sache, die ich als positives Resultat dieser Verpflichtung betrachte: erneuerte Energie. Und irgendwann werden die Leute dies auch anerkennen.”

Eine Jazztradition, auf deren Pflege Dave Holland mit seinem Quintett besonderen Wert gelegt hat, ist jene, eine feste Formation zu unterhalten, ein Ensemble, das zusammen über einen längeren Zeitraum regelmäßig auftritt und Aufnahmen macht. Für ihn ist dies in Zeiten, in denen die großen Namen der Solisten zählen sowie Konzerte und Einspielungen von All-Star-Bands en vogue sind, eine weitaus größere Herausforderung. “Eine wahre Band schafft Kontinuität und gibt einem die Chance, auf etwas aufzubauen”, erklärt Holland. “Man kann eine gemeinsame Sprache kreieren und einen gruppenspezifischen Stil. In der Gruppe ist Platz für die individuellen Stile der einzelnen Musiker, und sie bietet jedem gleichzeitig ein Mittel, sich seiner Sprache und Vision bewußt zu werden. Der Teil, den ich an der Musik mit am meisten mag, ist der gemeinschaftlich gespielte Teil und der Austausch von Ideen.”

Holland schrieb die Hälfte der Stücke von “Critical Mass”. “The Eyes Have It” hat der Bassist seiner Enkelin gewidmet, deren Augen ihn an die ihres Vaters (also seines eigenen Sohnes) erinnern. Der Geist von New Orleans wird in “Easy Did It” heraufbeschworen. Ein Besuch bei dem Oudspieler Anouar Brahem inspirierte ihn zu “Secret Garden”, das – so Holland – “ein bißchen auf einer gewissen Atmosphäre der arabischen Tradition basiert”. Die Up-Tempo-Nummer “Lucky Seven” wiederum gab dem Ensemble Gelegenheit sich eingehender mit Metrik und Melodie auseinanderzusetzen.

In seiner Eigenschaft als Bandleader ermuntert Dave Holland seine Mitspieler, eigene Kompositionen für das Repertoire der Band zu schreiben; jeder der vier anderen Musiker des Quintetts steuerte ein Stück bei. Von Saxophonist Chris Potter stammt “Vicissitudes”. Schlagzeuger Nate Smith, der 2004 zum Quintett stieß, schrieb für seine erste Einspielung mit dieser Band “The Leak”. Posaunist Robin Eubanks komponierte “Full Circle” und Vibraphonist Steve Nelson das lateinisch betitelte Stück “Amator Silenti”, was soviel heißt wie: “Einer, der Stille liebt”. Alle Stücke wurden, bevor es zur Aufnahme ins Studio ging, schon über ein Jahr lang bei Konzerten aufgeführt.

Holland führt sein Quintett auf eine Weise, die mit der allgemeinen Rolle des Baß im Jazz in Einklang steht. “Ich habe versucht, die unterstützende Rolle des Instruments beizubehalten und diese zur selben Zeit zu erweitern, so daß der Baß in einen aktiveren Dialog mit den anderen Instrumenten tritt”, meint Holland. “Irgendwer schreibt ein Stück, aber das ist nur der Ausgangspunkt, denn jeder steuert seine eigenen Ideen dazu bei und seine Vorstellung davon, wie das Stück interpretiert werden sollte. Das sind alles Dinge, bei denen man unterstützend arbeiten muß; Konkurrenzkampf und Wettbewerb untereinander wäre da kontraproduktiv.”

Das Alter der Mitglieder des Quintetts reicht von 32 bis 60 Jahren und garantiert so die Fortführung der Jazztradition des Dialogs zwischen den Generationen – was ein Markenzeichen von Jazzgrößen wie Duke Ellington und Miles Davis war (Holland selbst war, wie bekannt sein dürfte, einer der Jüngsten unter den Musikern, mit denen Miles sein legendäres Album “Bitches Brew” aufnahm). “Im Jazz ist es seit langem Tradition, daß Künstler mehrerer Generationen miteinander spielen”, sagt Holland. “Als junger Musiker habe ich davon profitiert. Und jetzt können die Energie und die neuen Ideen, die ein junger Musiker in die Musik einbringt, auf mich wie eine Frischzellenkur wirken. Es gibt eine Interaktion zwischen den Generationen, die erhalten bleiben muß. Aber leider gibt es mehr als genug Leute, die nur mit Musikern ihrer eigenen Generation zusammenarbeiten.”

Die Kommunikation unter den Musikern war etwas, das Holland von Beginn an zum Jazz hinzog. “Wir folgen immer noch den Prinzipien des New-Orleans-Stils”, erläutert Holland. “Wir greifen abwechselnd eine Idee auf, jonglieren mit ihr herum und ergänzen uns gegenseitig mit unserem Spiel – es geht nicht darum, einen Solisten vorne auf der Bühne zu haben, der sein Ding durchzieht, ganz gleich, was alle anderen spielen. Ich liebe diese Musik gerade wegen der Interaktion. Ich liebe es, wie die verschiedenen Teile der Gruppe und die unterschiedlichen Musiker sich kreuzen.”

Das Quintett folgt einer musikalischen Entwicklung, die die Jazzwelt verstärkt in den letzten zwanzig Jahren durchlaufen hat: die Evolution verschiedener Arten von rhythmischen Strukturen und Formen. “Wir haben uns eingehend mit rhythmischen Traditionen aus verschiedenen Teilen der Welt befaßt”, sagt Holland. “Von klassischer indischer über afrikanische Musik bis hin zur Musik der gesamten afrikanischen Diaspora: aus Südamerika und der Karibik. Aus diesem ganzen Fundus bediene ich mich als Spieler.”

“Wir integrieren auch Stile und Rhythmen, die man in zeitgenössischer Popmusik hört”, fährt Holland fort. “HipHop, Rap, Rhythm’n'Blues… die Innovationen in diesen musikalischen Feldern. Und dies ist wiederum beste Jazztradition. Der Jazz hat sich immer bei der jeweiligen zeitgenössischen Popmusik bedient und diese Elemente in seine eigene Sprache integriert. Das passierte, als Jazzmusiker Broadway-Songs aufgriffen und in Jazzstandards transformierten. Heute schreiben sehr viel mehr Musiker eigene Stücke und integrieren zeitgenössische Popästhetik und -stile. Wir verwenden eine Menge rhythmischer Zitate aus der modernen Popmusik. Und ich bin natürlich auch der Meinung, daß Musik den Blick sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit richten muß.”

Beim abschließenden Anhören der Sessions, als das Album fertig war, dachte Holland darüber nach, was er alles in diese Einspielung gesteckt hatte: Anderthalb Jahre Zusammenspiel mit dem Quintett, anderthalb Jahre, in denen über die Musik diskutiert wurde, in denen sie auseinandergenommen wurde, mit ihr experimentiert wurde, verschiedene Dinge ausprobiert wurden. “In einem bestimmten Augenblick hatte die Musik einen Punkt erreicht, an dem sie das geworden war, was sie sein würde”, unterstreicht Holland. “Sie wird sich weiterhin verändern, aber sie hat einen Wendepunkt erreicht. Sie ist sie selbst geworden. Wenn man davon spricht, daß etwas eine kritische Masse erreicht hat, dann hat es endlich einen Punkt erreicht, an dem es einfach passieren muß.” Nicht anders verhält es sich bei Dave Hollands Karriere. Der Bassist, der Bandleader hat einen entscheidenden Moment erreicht. Der Künstler ist er selbst geworden.