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Duo der Gegensätze

Charlie Haden
Charlie Haden
04.06.2015
Zehn Jahre hat pures Gold darauf gewartet, gehört zu werden: Der bislang unveröffentlichte Mittschnitt zweier Jazz-Legenden, aufgenommen an vier Abenden im Frühling 2005 im Blue Note Club von Tokio. Ruth Cameron-Haden, die Witwe des im letzten Jahr verstorbenen Bassisten, liefert für den Albumtitel eine schöne Erklärung: “Charlie hat mir oft gesagt, dass er ein ‘Adagio-Typ’ sei – und das stimmt! Er liebte die langsamen Sätze in klassischen Werken. Deshalb ist der Titel auch so passend.”
In Charlie Haden und Pianist Gonzalo Rubalcaba fanden sich knapp zwanzig Jahre vorher, 1986, zwei Künstler, die auf den ersten Blick wie musikalische Antipoden wirkten. Der junge kubanische Klaviervirtuose sorgte damals gerade in seiner Heimat mit der Band Grupo Proyecto für Furore. Das Ensemble spielte eine explosive Mischung aus traditionell kubanischen Stilen, Jazz und Fusion. Der mehr als doppelt so alte Haden wiederum galt als Stoiker am Kontrabass und war ein musikalischer Feingeist, der niemals als Virtuose zu glänzen versuchte. Doch gleich beim ersten musikalischen Zusammentreffen sprang der kreative Funke über. Haden lernte Rubalcaba auf Kuba kennen, wo er mit seinem Liberation Music Orchestra beim Havana Jazz Plaza Festival auftrat, am selben Abend spielte dort auch der damals 23-jährige Rubalcaba mit seiner Band.
“Nachdem wir unser Set gespielt hatten, kam Charlie auf mich zu und sprach mich an”, erinnert sich Rubalcaba. “Ich verstand damals kein Wort Englisch, so dass wir einen Übersetzer brauchten. ‘Wir müssen miteinander spielen’, meinte Charlie. ‘Wie können wir das machen?’ Ich buchte sofort für den nächsten Tag einen Termin im Studio. Charlie legte mir ein paar Notenblätter vor und wir spielten zwei oder drei Stunden. Er reiste mit einer Kassette von den Aufnahmen ab. Er war sehr enthusiastisch und überreichte die Aufnahmen nach seiner Ankunft in den USA Bruce Lundvall von Blue Note Records.” Das Ergebnis waren in den kommenden Jahren vier gemeinsame Alben auf Blue Note und danach drei weitere auf Verve. Aber keine dieser Einspielungen reicht an die stille Brillanz heran, die beide Musiker an vier Abenden im Frühling 2005 dem Publikum in Tokio boten.
Das Repertoire von “Tokyio Adagio” besteht aus Stücken, die Haden allesamt schon für verschiedene Studioalben aufgenommen hatte. Im Zusammenspiel mit Rubalcaba interpretiert er sie jedoch faszinierend neu. Dabei beschränkt er sich größtenteils darauf, die klassische Rolle eines Bassisten zu übernehmen, begleitet den Pianisten aufmerksam und lässt diesen die Themen nach Belieben ausschmücken. Doch den großen Fluss der Musik steuert tatsächlich immer wieder Haden. “Tokyo Adagio” ist ein Zeugnis dafür, wie diese beiden im Prinzip so gegensätzlichen Musiker zu einander gefunden haben und zu einer musikalischen Einheit verschmolzen sind. Und dies überrascht einen auch heute noch.
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