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Bill Frisell & Thomas Morgan – neue Live-Aufnahmen aus dem Village Vanguard

Auf ihrem zweiten Duo-Album “Epistrophy” versuchen Gitarrist Bill Frisell und Bassist Thomas Morgan stets zum melodischen Kern der Songs, die sie interpretieren, vorzudringen.
Bill Frisell / Thomas Morgan
Bill Frisell / Thomas MorganMonica Frisell / ECM Records
11.04.2019
“Wehmütig und hypnotisierend… klanglich genial und eindringlich” – mit diesen Worten umschrieb der Guardian 2017 die Musik von Bill Frisell und Thomas Morgans erstem Duo-Album “Small Town”, dass bei einem Auftritt im New Yorker Village Vanguard mitgeschnitten worden war. Im März 2018 bestieg das Gespann erneut die Bühne des legendären Clubs im Greenwich Village, um dort auch sein zweites ECM-Album “Epistrophy” live einzuspielen. In dem intimen Rahmen beweist das Duo einmal mehr sein seltenes musikalisches Einfühlungsvermögen. Auf dem Programm standen wieder poetische Preziosen aus dem Americana-Songbook (“All In Fun”, “Red River Valley”, “Wildwood Flower” und “Save The Last Dance For Me”), allseits bekannte Jazzstandards von Thelonious Monk (“Epistrophy” und “Pannonica”) und Billy Strayhorn (“Lush Life”), ein Filmsong von John Barry (das Titelstück für den James-Bond-Film “You Only Live Twice”) und eine Komposition von Paul Motian (“Mumbo Jumbo”).
Sein ECM-Debüt als Leader machte Frisell 1983 mit dem Album “In Line”. Schon damals besaß er einen unverkennbar eigenen Sound, durch den er sich deutlich von anderen modernen Jazzgitarristen abhob. Unter den vielen Aufnahmen, die er seither als Leader und Sideman für ECM einspielte, stechen die ikonischen Trio-Einspielungen mit Paul Motian und Joe Lovano, die 2007 in dem Album “Time And Time Again” kulminierten, besonders hervor. Morgan, der ebenfalls mit Motian auftrat und aufnahm, machte sich bei ECM einen Namen als bevorzugter Bassist von Tomasz Stanko, Craig Taborn, Jakob Bro, David Virelles, Giovanni Guidi und Masabumi Kikuchi. Die Verbindung zu Motian und seiner Musik eint Frisell und Morgan auf besondere Weise. “Small Town” enthielt in Form einer eindringlichen, elfminütigen Interpretation der Motian-Komposition “It Should’ve Happened A Long Time Ago” bereits eine Hommage an den 2011 verstorbenen Schlagzeuger. Auf “Epistrophy” knöpfte sich das Duo mit “Mumbo Jumbo” nun eine ganz anders geartete Motian-Komposition vor. “Es ist eine von Pauls dichteren, abstrakteren Arbeiten”, erklärt Frisell. "Aber es ist wie bei allen Stücken von Paul: wenn man die Melodie von ‘Mumbo Jumbo’ spielt, versetzt es einen in diese spezielle Welt, in der einem jeder Ton eine Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten nahelegt. Thomas und ich haben uns wirklich in diese Musik vertieft. Ich hatte ‘Mumbo Jumbo’ schon mit Paul und Joe gespielt, aber Thomas machte mich in diesem Stück auf Dinge aufmerksam, von denen ich nicht wusste, dass sie da waren. 
Eine Entdeckung wird für viele Hörer sein, wie großartig “You Only Live Twice” im Jazzkontext klingt. “John Barrys Musik gehörte zu den Dingen, die ich als Kind in den 60er Jahren für selbstverständlich hielt”, erinnert sich Bill Frisell. “Ich habe sie nicht unbedingt ernst genommen, obwohl sie mir durchaus gefiel, als ich sie in dem James-Bond-Film hörte. Aber es geht mir öfter so, dass ich in einem Stück, das ich lange Zeit übersehen habe, plötzlich Dinge entdecke, weil ich inzwischen ein tieferes Verständnis dafür entwickelt habe, was Musik wirklich ist. Wenn man ein Stück wie ‘You Only Live Twice’ oder auch ‘Goldfinger’ [das zum Repertoire von ‘Small Town’ gehörte] von all seinen popkulturellen Assoziationen befreit, erhält man diese schönen Akkorde und Melodien. Im auf das Wesentliche reduzierten Kontext des Duos versuchen wir, zum Kern dieser Musik gelangen. Es ist eine Obsession von mir, die Ursprünge der Stücke kennenzulernen und zu versuchen, all die kleinen Details – etwa in den Orchestrierungen der Songs von John Barry – zu verstehen. Thomas ist dabei ein idealer Partner, da er es versteht, zum Kern dieser Songs vorzudringen.”
Im Bereich der improvisierten Musik gibt es kaum einen anderen Musiker, der sich so intensiv mit dem Americana-Repertoire auseinandergesetzt hat wie Bill Frisell. Die Faszination für dieses Genre teilt er mit Thomas Morgan. Der Bassist war es auch, der den von Jerome Kern und Oscar Hammerstein II geschriebenen Song “All In Fun” und den 1960er Soul-Hit “Save The Last Dance For Me” der Drifters vorschlug (letzterer wurde hier mit einem Intro des Folksongs “Wildwood Flower” versehen, das zu Frisells Lieblingsstücken zählt). “'All In Fun' spielen Bill und ich schon seit unserem ersten Auftritt als Duo”, erzählt Morgan. “Die Nummer stammt aus dem Broadway-Musical ‘Very Warm For May’ von 1939, das auch ‘All The Things You Are’ hervorgebracht hat. Der Text klingt zunächst gefühllos, entpuppt sich dann aber als tief empfunden. Die Musik – mit einer scharfen None in der Eröffnungsphrase, die am Ende auf die große Terz aufgelöst wird – passt zu dem Text. Bills Sound gibt ihr so viel Wärme, dass er für den Song einfach perfekt zu sein scheint. Die Drifters-Aufnahme von ‘Save The Last Dance For Me’ ist ein Klassiker. Es ist erstaunlich, dass der Song nur die drei gebräuchlichsten Akkorde verwendet, aber die Melodie voller Vorhalte ist, die natürlich und melodisch wirken und gleichzeitig die Harmonien bereichern. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es sich so gut anfühlt, hier auf einfache Weise zu begleiten. Das und die Tatsache, dass Bill den Rhythmus in Gang hält und die Melodie mit den Nuancen eines Sängers spielt.”
Welche Möglichkeiten Americana-Stücke – wie etwa der traditionelle Folksong “Red River Valley”, der auch auf “Epistrophy” zu hören ist – einem Jazzmusiker bieten, erfuhr Frisell durch das Beispiel von Sonny Rollins. “Sonny war ein leuchtendes Vorbild. Er spielte ein Stück wie ‘I’m An Old Cowhand’ – dass er vermutlich als Kind in einem Film gehört hatte – mit Respekt und Hingabe”, sagt der Gitarrist. “'Way Out West' war eine der ersten Jazzplatten, die ich mir gekauft habe. Und als ich sie hörte, ging mir ein Licht auf. Später stieß ich zu Gary Burtons Band mit Larry Coryell, mit der wir Stücke von Bob Dylan und Country-Songs spielten. Die Musiker, zu denen ich mich am meisten hingezogen fühle, sind solche, die keine übersimplifizierte musikalische Wertehierarchie haben, in der ein Folksong nicht den gleichen Wert hat wie etwas Komplizierteres. Diese Musik kann echte Tiefe haben.”
Zwei weitere Stücke von “Epistrophy” stammen aus dem Reich der spätnächtlichen Balladen einsamer Herzen: Billy Strayhorns ikonisches “Lush Life” und Frank Sinatras Erkennungsnummer “In The Wee Small Hours Of The Morning”. Frisell erinnert sich, dass er den Sinatra-Song nicht wirklich schätzte, als er jünger war. “Das war eine Aufnahme, die zur Generation meiner Eltern zu gehören schien. Aber dann las ich irgendwo, wie sehr Miles Davis auf Sinatras Phrasierung bei dieser Nummer stand und sagte mir: ‘Oh, das sollte ich mir mal genauer anhören.’ Und so offenbarte sich mir schließlich die Schönheit des Liedes. Ganz anders ist es bei einem Stück wie ‘Lush life’, dass ich über Jahre hinweg zu spielen versucht habe – das Vermächtnis dieses Stücks kann einen einschüchtern. Es ist schwierig, ganz gleich, ob man es Strayhorn selbst singen hört oder die berühmte Aufnahme von Johnny Hartman und John Coltrane. Aber auch hier ging es wieder nur darum, zu versuchen zur Essenz des Songs zu gelangen, und das zu spielen, was er wirklich geschrieben hatte.”
Das Herzstück von “Epistrophy” bilden mit der Titelnummer und der Ballade “Pannonica” zwei Kompositionen von Thelonious Monk, die Frisell schlicht “magisch” nennt. Das auf dem CD-Cover abgebildete Gemälde – von dem 2013 verstorbenen Charles Cajori, der zur zweiten Generation der abstrakten Expressionisten gehörte – trägt ebenfalls den Titel “Epistrophy”. Cajori war ein Freund von Frisells Eltern, ein hipper, vom Jazz inspirierter Künstler, der, wenn er die Familie in Denver besuchte, dem staunenden Bill von seinen Begegnungen mit Leuten wie Miles und Monk im Village Vanguard erzählte. “Er sprach mit mir wie mit einem Erwachsenen, obwohl ich ein kleiner Junge aus Colorado war”, erinnert sich der Gitarrist. “Was er sagte, habe ich nie vergessen. Jahrzehnte später wollte ich mich mit ihm wieder in Verbindung setzen – er lehrte an der New York Studio School. Ich schrieb ihm einen Brief, in dem ich ihm mitteilte, wie viel mir diese Gespräche bedeutet haben. Wir trafen uns und kamen uns in seinen letzten Lebensjahren näher. Wir unterhielten uns über seine Freundschaft mit Mort Feldman und wie er Monk mit Coltrane im Five Spot live gesehen hat, all solche großartigen Sachen. Dabei erzählte er mir von diesem Gemälde, das er gemacht und ‘Epistrophy’ betitelt hatte. Es bedeutet mir sehr viel, dass wir es auf dem Cover dieses Albums verwenden durften.”