Für viele Musikfans ist das Ausblenden eines Stücks ein Ärgernis, für manche andere eine wahre Kunst. Nun scheint diese Technik immer seltener angewendet zu werden.
Wer hätte es gedacht? Nicht nur Berggorillas, diverse Nashornarten und der Amur-Leopard sind vom Aussterben bedroht, sondern laut sich mehrenden Berichten und Erhebungen offenbar auch die Technik des Ausblendens in der Popmusik. Seinen Zenit erreichte der Fade-Out 1985, als gemäß Billboard am Jahresende sämtliche Songs der Top 10 mit diesem technischen Kniff beendet wurden. Seitdem ging es fast kontinuierlich bergab. Und in den Jahren 2011 und 2012 gab es in den Top 10 beispielsweise kein einziges Lied, das mit einem Fade-Out ausklang. Wenn man Musikfans befragt, was sie vom Ausblenden halten, fällt das Urteil meist vernichtend aus. Dabei ist das Ausblenden tatsächlich eine Kunst.
Nur ist es eine Kunst, die manche Tonmeister beherrschen und andere eben nicht. Unterschieden werden laut einer Studie der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover drei Arten des Ausblendens: “Bei Typ 1 gibt es ein technisches Decrescendo mit einer zeitlich gestreckten Lautstärkereduzierung, die unabhängig von der Songstruktur ist (z.B. ‘Strawberry Fields’ von den Beatles), Typ 2 wird charakterisiert durch ein Decrescendo mit einem wiederholten Chorus (z.B. ‘Cheri, Cheri Lady’ von Modern Talking) und Typ 3 verwendet ein Decrescendo mit einem wiederholten Chorus und eingestreuten kurzen Vokal- oder Instrumentalimprovisationen (sogenannte ‘ad-libs’; z.B. ‘Another Star’ von Stevie Wonder).“ Und das Ausblenden erfüllt auch einen Zweck: nämlich die Musik länger im Ohr des Hörers nachklingen zu lassen. Bei einem empirischen Versuch wurde festegestellt, dass Hörer bei Liedern mit einem sogenannten “kalten Ende” den Rhythmus schon 1,4 Sekunden vor dem eigentlichen Schluss nicht mehr mitklopften, während sie bei Stücken mit Fade-Out noch 1,04 Sekunden nach dem Ende des Songs weiterklopften. Über die erstaunlich komplexe Thematik haben sich kürzlich auch die Webpages
Vox und
Slate Gedanken gemacht.
Nun mag der Jazzfan denken: “Was gehen mich die banalen Probleme der Popwelt an? Im Jazz verstehen es die Musiker noch, ein Stück vernünftig zum Abschluss zu bringen.” Da ist er dann allerdings schief gewickelt. Denn tatsächlich wurde sogar die allererste Aufnahme, bei der das Mittel des technischen Fade-Out angewendet wurde, von einem Saxophonisten gemacht, der 1944 auch beim ersten Jazz At The Philharmonic-Konzert von Norman Granz auftrat: Jack McVea spielte im Oktober 1946 den R&B-Crossover-Hit “Open The Door, Richard!” ein. Und auch eine nur wenige Monate später entstandene Aufnahme desselben Stücks von Count Basie und seinem Orchester endete mit einem (indes ziemlich abrupten) Fade-Out. Basies Version kletterte damals übrigens auf Platz 1 der Charts. Seitdem ist das Ausblenden der Musik auch im Jazz durchaus nicht unüblich. Das belegen etliche der populärsten Aufnahmen, die diese Musik hervorgebracht und die jeder Jazzfan – vielleicht auch ein wenig wegen des Fade-Out – auf alle Zeit im Ohr hat: etwa Weather Reports “Birdland” oder “Chameleon” von Herbie Hancocks Head Hunters.