Auf Streife im Netz | News | Kamasi Washington oder warum der zum Heroen wird, wer dann und wann den richtigen Leuten eine Rechnung stellt

Kamasi Washington oder warum der zum Heroen wird, wer dann und wann den richtigen Leuten eine Rechnung stellt

Foto Auf Streife im Netz Jazzecho
Foto Auf Streife im Netz Jazzecho
26.06.2015
Erst wurde angestrengt geflüstert, dann hob einer nach dem anderen die Hand und reckte den Daumen ganz nach oben. Inzwischen scheint sich die sonst so gern kontroverse Kritikergemeinde einig: Das neue, große Ding im Jazz, der schon so lange und sogar den Erfolgen eines Gregory Porter zum Trotze ohne neue, große Dinger auskommen musste, hieß plötzlich Kamasi Washington. Ein 34-jähriger Kalifornier aus L.A., der Saxophon spielt.
Im Jazz beileibe noch keine Sensationsmeldung, aber im Netz überschlugen sich die Hymnen auf diesen zweifellos talentierten Mann. Als er nun sein Debüt “The Epic”, eine Triple-LP mit knapp drei Stunden Spieldauer veröffentlichte, deren kürzester von 17 Titeln sechseinhalb Minuten dauert und die immerhin acht Tracks von weit über zehn Minuten Länge enthält, waren ihm online die Kniefälle in Serie sicher. Aber warum eigentlich?
Jahrelang hat jeder lange Titel gehasst, zumal dann, wenn niemand dazu seine Stimme erhob. Auch gegen Saxophon-Soli sind nicht wenige Musikliebhaber regelrecht allergisch, und Washington fährt ja noch weit mehr auf: Ein Dutzend Musikanten in der Band, ein 32-köpfiges Orchester, einen vielstimmigen Chor, der indes nur sehr gelegentlich den zudem dezenten Background stellt. Weshalb also galt er plötzlich als Neuerer des Genres?
Auf diese Frage gibt es vordergründig zwei Antworten. Zum einen kommt Kamasi Washington zugute, dass heute kaum noch jemand seine Arbeit mit den – tatsächlich revolutionären – Alben eines Pharoah Sanders, John Coltrane oder Sonny Rollins vergleicht, die Ebenbürtiges bereits vor Dekaden ablieferten. Da besitzt er den gleichen Vorteil wie ein Lenny Kravitz, dessen erste Eruptionen auch nur jenen Gänsehaut über den Rücken laufen ließen, die Namen wie Sly & The Family Stone nicht mehr der Musikgeschichte zuordnen konnten.
Und zum Zweiten gab Washington der darbenden Kritikerzunft die Chance, endlich mal wieder akrobatische Expertisen wie etwa diese in der “Zeit” schreiben zu können: “Und schon sind sie da, die modalen Quartenakkorde, schwer und gravitätisch, schließlich der Trommelwirbel, die Hörner, das Thema: Jazz, die Uhren rasen rückwärts, weit in Richtung der goldenen Jahre des modernen Jazz, der seligen Sechziger, als John Coltrane im Furor seiner Akkordbrechungen die Harmonie verflüssigte, Strukturen sich im rasenden Stillstand des Pulses auflösten und die jungen Wilden des New Thing den Schrei zur Signatur ihrer afroamerikanischen Lebenswirklichkeit erklärten.”
Wundervoll. Noch interessanter aber ist die Antwort Nummer drei. Washington hat sich vor seinem Debüt als Dienstleister verdingt für HipHop-Stars wie Lauryn Hill, Snoop Dogg, Kendrick Lamar und Flying Lotus, und eben dies brachte und bringt ihm Meriten in den Online-Foren ein. Dort glaubt man jetzt, mit dieser “Cool Cat” den Jazz entdeckt und ihm gleichsam neuen Schub gegeben zu haben. Auch wenn daraufhin die Jazz-Polizisten ihre Vorschuss-Lorbeeren vielleicht eilig wieder einsammeln wollen: Die Steine, welche sie losgetreten, rollen trotzdem den Hang hinab.
Und es spricht absolut nichts dagegen, dem jungen Jazz ein paar Steigbügelhalter zu gönnen, welche diese Musik einer im Grunde nicht erreichbaren Klientel zugänglich machen. Denn “The Epic” ist beileibe kein schlechtes, sondern eher schon ein wirklich fast sensationelles Album. Solange man es nicht unter falschen Vorzeichen zu einem solchen erklärt.
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