Was in den Sechziger Jahren die Klassikszene schockte ist heute längst ein Jazzklassiker: die “Play Bach”-Reihe erscheint jetzt erstmals remastert in einer Box.
“Ich hatte schon immer den Eindruck, dass sich der Jazz aus der Musik Bachs ergibt”, sagt Jacques Loussier. “Und zwar so natürlich, dass ich mich frage, ob Bach die Rhythmen aus der Neuen Welt vorausgesehen hat.” Was immer der Thomaskantor vorhersah – es war Loussier, der die Verschmelzung von Bach und Jazz zu seinem Markenzeichen machte, und das hieß “Play Bach”. Unter diesem Titel erschienen um 1960 fünf LPs, die jetzt in der Reihe 5 ORIGINAL ALBUMS in feiner CD-Box, remastert und mit den Originalcovers neu aufgelegt wurden.
Vor Loussier hatte Django Reinhardt mit den Geigern Eddie South und Stéphane Grappelli eine Swing-Version des 1. Satzes von Bachs Doppelkonzert in d-Moll eingespielt (1937), Benny Goodman hatte eine Jazzfuge “Bach Goes to Town” genannt (1938), John Lewis vom Modern Jazz Quartet seine Komposition “Vendôme” an Bachsche Inventionen angelehnt (1952). Loussier aber swingte mit Bach zum Welterfolg. Die Jazzwelt hat es ihm nicht gedankt. Kaum ein Jazzlexikon, kaum eine Jazzgeschichte, in denen sein Name überhaupt erwähnt würde. Seine Musik gilt als gepflegte Unterhaltung. Das Publikum aber liebte den unkonventionellen Blick auf Bach und konnte kaum genug bekommen. Ein Album brauchte der Pianist, um weltbekannt zu werden: “Play Bach” (1959). Es fand solch reißenden Absatz, dass Loussier bis 1965 vier Studio- und eine Live-LP (“Play Bach aux Champs-Élysées”) nachlegte. Über sechs Millionen Stück gingen binnen 15 Jahren über die Ladentische und machten den swingenden Bachinterpreten bekannt wie einen Popstar. Worüber er selbst am meisten erstaunt war: “Ich konnte mir nicht vorstellen,” meinte er mal, “dass sich diese Platten verkaufen würden. Ich dachte an etwa 20 Stück für meine Freunde, mehr nicht.”
Als zehnjähriger Klavierschüler habe er sich in “ein kleines g-Moll-Präludium aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach verliebt. Ein sehr einfaches Stück, nur zwei Noten. Ich spielte es immer wieder, den ganzen Tag lang, fügte etwas hinzu, veränderte ein, zwei Noten. Langsam gewöhnte ich mir an, mit Bach zu spielen und Spaß zu haben.” Am Konservatorium drängten ihn die Kommilitonen: “Komm, spiel uns deinen kleinen Bach!” Dabei improvisierte er voller Ehrfurcht vor dem Meister, schließlich sei der “der größte Komponist aller Zeiten.” Mit gespitzten Ohren hörte Loussier moderne Jazzpianisten, allen voran John Lewis vom Modern Jazz Quartet: “Er konnte mit wenig Mitteln Wunderbares schaffen. Ich versuchte, in die gleiche Richtung zu gehen, mit meinen Mitteln, meinen Kenntnissen, und langsam fing ich an, die Sprache des Jazz zu verstehen.” Und je mehr er vom Jazz verstand, umso mehr Parallelen entdeckte er zu Bach: “Bei ihm besteht das Thema zumeist aus acht, 16 oder 32 Takten. Es gibt ähnliche Zäsuren wie bei Jazzstücken, und das Tolle ist: Bei Bach gibt es nicht nur die Zäsuren und ein einfaches, schönes Thema, sondern Harmonien, die viele Improvisationsmöglichkeiten bieten.”
Mit dem Bassisten Pierre Michelot und dem Drummer Christian Garros, zweien der führenden Jazzmusiker Frankreichs, gründete er 1959 das Play Bach Trio. Beide hatten mit Django Reinhart, Miles Davis, Bud Powell und vielen anderen Größen gearbeitet, Michelot war 1957 an Miles' Soundtrack zu dem Klassiker “Fahrstuhl zum Schafott” beteiligt gewesen. “Die beiden hatte meine Plattenfirma ausgewählt” erinnert sich Loussier. “Sie kannte die besten Musiker in Paris. Ich traf sie erst im Studio, als ich mit den Partituren für die Aufnahme kam. ‘Guten Tag, Messieurs, hier sind die Noten.’ Ich mache Bach-Improvisationen.' Wir sahen uns die Partituren an und begannen mit der Aufnahme.” Mit klassischer Ausbildung und stupender Technik, seiner Improvisationsgabe und einer famosen Rhythm-Section verfügte Loussier jetzt über alles, was nötig war, die Liebe zu Bach mit der zum Jazz zu verbinden. Knapp zwei Jahrzehnte lang galt das Trio als populärste Formation zwischen Jazz und Klassik – bis es sich 1978 auflöste.
Da hatte es längst andere auf die Idee gebracht, Ähnliches zu wagen und Bach, Barock oder Klassik in ihre eigene Musiksprache zu übersetzen. Von Jazzern wie Eugen Cicero, George Gruntz oder den Swingle Singers über Rockbands wie Jethro Tull (“Bourrée”), Ekseption oder The Nice bis zum Moog-Pionier Walter (Wendy) Carlos (“Switched on Bach”): An allen war “Play Bach” nicht unbemerkt vorübergegangen. Loussier aber zog sich in die Provence zurück, komponierte Filmmusiken, experimentierte und stellte Stars wie Elton John, Sting, Yes und anderen sein Studio zur Verfügung. Mehrere Passagen von Pink Floyds “The Wall” entstanden dort. Doch 1985, im 300. Geburtsjahr Bachs, war Loussier wieder da. Mit neuem Trio begann er, sein Erfolgsrezept auch auf andere Komponisten anzuwenden: Händel, Vivaldi, Beethoven, Satie, Ravel … “Für jeden Komponisten”, sagt er, “muss man das Passende finden. Einfach Bass und Schlagzeug hinzufügen, das reicht nicht.” Bach ist er nie untreu geworden. Vielmehr nutzte er jeden Anlass, sich seinem bevorzugten Komponisten zu widmen. Hatte doch kein Geringerer als Glenn Gould, der Meister der Bach-Interpretation höchstselbst, nach dem New-York-Debüt des Franzosen befunden: “'Play Bach' is a good way to play Bach.”