Julia Hülsmann | News | Julia Hülsmann Quartet: Intuitive Interaktionen mit noch mehr Intensität und Freiheit

Julia Hülsmann Quartet: Intuitive Interaktionen mit noch mehr Intensität und Freiheit

Auf “The Next Door” beweist das Julia Hülsmann Quartett, das es in den drei Jahren seit seinem fabelhaften Debüt zu einer noch geschlosseneren Einheit zusammengewachsen ist.
Julia Hülsmann
Julia HülsmannPeter Hundert / ECM Records
26.08.2022
“Im Quartett können wir unsere verschiedenen Aufgaben offener und freier gestalten als im Trio. Obwohl es einen zusätzlichen Musiker gibt, ist eine striktere Rollenzuweisung nicht notwendig. Ich habe am Klavier sehr viel Bewegungsspielraum, kann von Unisono-Linien zur melodischen Begleitung übergehen und dann wieder zum Spielen von Basslinien wechseln – alles nahtlos, weil wir uns immer gegenseitig zuhören. Das ist unsere absolute Priorität.” – Julia Hülsmann
Das Quartett – für das sie ihr seit rund zwanzig Jahren eingespieltes Trio mit Bassist Marc Muellbauer und Schlagzeuger Heinrich Köbberling um den Tenorsaxophonisten Uli Kempendorff erweiterte – hatte Julia Hülsmann 2019 auf dem ECM-Album “Not Far From Here” vorgestellt. Auf dem neuen Album “The Next Door” zeigt das Ensemble, das es bei seinen ausgiebigen Tourneen noch enger zusammengewachsen ist. Das Interaktionen der vier haben dadurch an Intensität, aber auch Freiheit gewonnen. Der Guardian nannte das Debüt des Quartetts wegen “seiner unaufdringlichen Neuerfindung des Vertrauten und coolen Virtuosität” ein “herausragendes Album” und sprach von “cleverer, durchdachter, neugieriger zeitgenössischer Jazzmusik”. Diese Tugenden wurden auf dem zweiten Album des Quartetts weiter verfeinert. Zugleich wurde das Spektrum auf “The Next Door” um neue Idiome erweitert, wobei jedes einzelne Mitglied eigene Kompositionen zum Repertoire beisteuerte.
“Seit dem ersten Album waren wir sehr viel unterwegs”, merkt Julia Hülsmann an. “Wir hatten Zeit, unsere engen Verbindungen im Quartett weiterzuentwickeln, und dadurch ist unser Zusammenspiel noch intuitiver geworden.” Daran änderte sich auch nichts, als während der Corona-Pandemie die meisten Live-Aktivitäten zwischenzeitlich eingestellt werden mussten. Julia und ihr Quartett nahmen in dieser Phase kurzerhand an alternativen Aufführungsprojekten teil und verbrachten viele Wochen damit, mit voller Energie neues Material einzustudieren. Das Ergebnis ihrer Arbeit präsentieren sie nun auf diesem Album. Es ist ebenso facettenreich wie kompromisslos, wobei der Schwerpunkt auf einem intimen Ensembleklang liegt. Wie ein roter Faden ziehen sich kurze Anleihen an die Jazztraditionen durch das Programm von “The Next Door”, irgendwo zwischen den modalen Gepflogenheiten der 60er Jahre und swingendem Post-Bop. Aber was wirklich heraussticht, ist, wie das Quartett diese Anspielungen danach umwandelt und sich zu eigen macht.
Empty Hands”, die nachdenkliche Eröffnungsnummer des Albums, wirkt wie eine leere Leinwand, die nach und nach mit zarten Tastenanschlägen, eindringlichen Melodien und filigraner Begleitung ausgefüllt wird. “Wenn du die Hände voll hast, musst du mit vielen Dingen jonglieren”, erläutert Julia, die diesen Song geschrieben hat. “Du hast einfach zu viele Sachen, die du auf einmal handhaben musst. Leere Hände sind hingegen wie ein unbeschriebenes Blatt – du hast alle Möglichkeiten der Welt, zu tun, wonach dir der Sinn steht.” Der folgende Titel “Made Of Wood” kontrastiert diesen impressionistischen Entwurf mit einem erdigen Ton. Das Stück hat einen modalen Rahmen und wird von einem geradlinigen Swing vorangetrieben. “Ich habe immer mal wieder das Bedürfnis, etwas Dauerhaftes, in gewisser Weise Versöhnliches zu schreiben. Dieses Stück bezieht sich auf mein inneres Fundament, das ich mit etwas assoziiere, das aus Holz gemacht und tröstlich ist.”
In “Jetzt noch nicht” kommt es zwischen der Pianistin und dem Saxophonisten Uli Kempendorff zu einem kurzen Austausch im Duo; eine längere Variation der Nummer wird später noch von dem ganzen Quartett vorgetragen. Das Stück hat ein stimmungsvolles Thema mit einer verschlungenen Melodie, die alle Musiker zu besonders expressivem Spiel einlädt. In Julias “Fluid” präsentiert sich die Band in einer faszinierenden Performance mit einem sanften, stetig anschwellenden Spannungsbogen als kompakte, vor Energie und Spielwitz sprühende Einheit. “Dieses Stück fußt auf den dichten, geschichteten Klavierklängen, die nach ein paar Takten einsetzen. Über diesem fließenden Teppich können sich Melodien herauskristallisieren und in Wellen weiterfließen. Wasser ist für mich ein wichtiges Element, das oft in meinen Bildern auftaucht.”
Ulis runder Ton ergänzt Julias Trio mit außergewöhnlicher Wärme und geht eine natürliche Symbiose mit Hülsmanns subtilem Klavierspiel ein. Das Stück “Open Up”, das der Saxophonist zum Repertoire beisteuerte, gehört zu den Highlights des zweiten Albums. “Als ich ‘Open Up’ schrieb, war ich ganz auf die Vorwärtsbewegung der Melodie fokussiert. Die Melodielinie schlängelt sich ihren Weg auf tänzerische Weise durch drei Oktaven. Der ausnotierte Basspart erschafft einen Kontrapunkt, während Klavier und Schlagzeug sich nach Belieben einmischen und kommentieren dürfen. Es gibt durchweg reichlich Raum für freie Interpretationen und Modifizierungen.”
Marc Muellbauers kompositorische Beiträge weisen sehr unterschiedliche Pulsschläge auf. “Polychrome” ist eine Rubato-Übung, die um eine größtenteils diatonische Melodie herum gebaut wurde, die ihrem tonalen Rahmen entkommen möchte. Bei “Wasp At The Window” hingegen hat sich die Gruppe zu einer ausgedehnten Trainingseinheit im Neunachteltakt verschworen, mit einem Ostinato, dass das Quartett nach Belieben biegt und anschwellen lässt. Vollkommen anders ist wiederum die Bossa Nova “Valdemossa”, die Marc mit Frédéric Chopin im Hinterkopf geschrieben hat: “Das Stück basiert auf den Harmonien von Chopins bekanntem Präludium Nr. 4 in e-Moll aus seinem Zyklus der 24 Präludien op. 28. Ich habe dazu eine neue Melodie geschrieben, die die chromatischen Vorschläge der Akkordfolge ausweitet. Und ihre Mehrdeutigkeit habe ich genutzt, um sie in zwei anderen, weit entfernten Tonarten zu modulieren. Benannt ist das Stück nach dem wunderschönen Ort auf Mallorca, an dem Chopin sein Stück komponiert hat…”
Lightcap”, das erste Stück aus der Feder des Schlagzeugers Heinrich Köbberling, kommt verspielt daher und offenbart einen Hang zu leicht Dekonstruktivistischem. Außerdem erinnert es anfangs an das skizzenhafte Framework einer Paul-Motian-Komposition. Tatsächlich wurde Köbberling zu dem Stück aber durch seine frühen Trio-Unternehmungen mit der Saxophonistin Lisa Parrott und dem Bassisten Chris Lightcap inspiriert – was auch den Titel erklärt. Köbberlings andere Komposition auf “The Next Door” ist “Post Post Post”, eine subtile Gruppenimprovisation mit einer verschleierten Melodie, die den Schlagzeuger schon seit Jahren beschäftigt.
Auf ihren Alben hat es sich Julia Hülsmann zur Gewohnheit gemacht, bekannte Songs aus der Popwelt in neue Gewänder zu hüllen. Diesmal fiel ihre Wahl auf “Sometimes It Snows In April” von Prince. Die eingängige Melodie des Songs, der gleich zu Anfang präsentierte, harmonische Hook und der entspannte Groove werden von der ganzen Band mit Bedacht erkundet, wobei Julias behutsamer Tastenanschlag im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.