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Directions In Music: Live At Massey Hall

07.06.2002
Am 25. Oktober 2001 betraten Herbie Hancock, Michael Brecker und Roy Hargrove gemeinsam die Bühne der legendären Massey Hall in Toronto, um in einem aufregenden Konzert den Legenden Miles Davis und John Coltrane, die beide 75 Jahre alt geworden wären, ihren Tribut zu zollen.
Die drei Ausnahmemusiker, die drei verschiedene Generationen der Jazzgeschichte repräsentieren, bewiesen bei ihrem Auftritt aber nicht nur ihren Respekt vor den von ihnen Geehrten, sondern zeigten auch, daß sie über eigene musikalische Visionen verfügen, die sie virtuos umzusetzen verstehen. Das von der Canadian Broadcasting Corporation aufgezeichnete Konzert wird nun von Verve unter dem Titel “Directions In Music: Live At Massey Hall” auf CD veröffentlicht.
 
Der Auftritt in der Massey Hall fand im Rahmen einer Tournee statt, bei der über 200.000 Konzertbesucher dieses Ensemble live erlebten. Allein schon deshalb dürfte man die Tournee mit Fug und Recht als das Jazzereignis des Jahres 2001 bezeichnen. Sinn und Zweck der Konzerte war aber nicht, Miles Davis und John Coltrane durch das Rekapitulieren bekannter Melodien, Harmonien und Arrangements auf ein Podest zu heben. Was Presse wie Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriß und dem Live-Mitschnitt aus der Massey Hall den ganz besonderen emotionalen Kick gibt, ist, daß die Musiker genügend Vertrauen in ihre eigenen Talente besaßen, um einige der bekanntesten Werke der verstorbenen Legenden auf absolut persönliche Weise neu zu gestalten. Derselbe Abenteuer- und Entdeckergeist, der zeitlebens das künstlerische Schaffen von Miles und Trane beseelte, ist auch auf “Directions In Music: Live At Massey Hall” in jedem Moment unmittelbar präsent.
 
Wenn sie nicht von den Pfaden abgewichen wären, die Davis und Coltrane als Pioniere beschritten hatten, dann, so Herbie Hancock, “hätten wir den Leuten, die wir ehren wollten, einen sehr schlechten Dienst erwiesen. Sie waren es, die uns direkt oder indirekt dazu ermutigten, beim Musikmachen neue Wege zu entdecken und zu erforschen, neue Perspektiven zu finden. Allein darum kann es gehen, wenn man ihnen nacheifern möchte. Man muß sich gerade die Stücke vorknöpfen, mit denen Miles und Trane identifiziert werden, ihnen dann aber einen wirklich eigenen Dreh geben.”
 
Indem sie das taten, haben Hancock, Brecker und Hargrove nicht einfach die Werke von Davis und Coltrane wieder einmal Revue passieren lassen, sondern Leidenschaften neu entfacht, die im Jazz der letzten Jahre einen Dornröschenschlaf führten. “Wir alle fühlten eine Verantwortung gegenüber den Geehrten und der Musik im Allgemeinen”, führt Hancock aus. “Wir wollten klarmachen, was das A und O bei Miles und Trane war: Über das bereits Bekannte hinauszugehen und Terrain zu erkunden, das einem noch fremd ist.”
 
“Wir gingen mit Entdeckereifer an dieses Projekt heran, versuchten tiefer in einige Songs einzudringen, die wir mit Miles und Trane identifizierten”, ergänzt Michael Brecker. “Beide schufen Musik, die die Epoche, in der sie lebten, widerspiegelte. Auf diese Weise kreierten sie zeitlose Musik. Wir wollten einen Weg finden, unser Einfühlungsvermögen zu beweisen und die Zeit, in der wir leben, zu reflektieren.”
 
Auf der “Directions In Music”-Tour wurden Herbie Hancock, Michael Brecker und Roy Hargrove von Bassist John Patitucci und Schlagzeuger Brian Blade begleitet. “John und Brian haben sehr viel zum Gelingen der ganzen Unternehmung beigetragen – sie sind ungeheuer kreativ und einfallsreich und kombinieren dies mit absoluter Virtuosität”, schwärmt Brecker. “Und dann ist da noch ihr unglaublicher Enthusiasmus. Sie machten jede Nacht zu einem wahren Abenteuer.”
 
Einen Teil der Inspiration für dieses Album verdankt Herbie Hancock natürlich seinen persönlichen Erfahrungen. Wie jeder Jazzfan weiß, war der Pianist – zusammen mit Wayne Shorter, Ron Carter und Tony Williams – fünf Jahre lang Mitglied jenes Quintetts von Miles Davis, das zu den wichtigsten Jazzensembles aller Zeiten zählt.
 
Für den erstaunlich vielseitigen Michael Brecker, der schon auf über 800 Jazz-, Pop- und Rockalben mitgewirkt hat, war Coltrane – mit dem er schon bewundernd verglichen wurde – seit jeher eine der größten Inspirationsquellen.
 
Roy Hargrove war einst Protege von Wynton Marsalis, den er als junger Trompeter während seiner Highschool-Zeit in Waco/Texas kennengelernt hatte. “Das war das erste Mal, daß ich mit Michael und Herbie auf Tournee war”, berichtet Hargrove. “In Gegenwart von Herbie werde ich immer nervös, weil er so ein großer Star ist. Er hat bereits soviele musikalische Grenzen überschritten… Als ich das erste Mal mit ihm zusammenspielte, war ich tatsächlich so nervös, daß ich kaum einen Ton herausbrachte.”
 
Seine Nervosität hat Hargrove mittlerweile abgelegt. “Ich war wirklich darüber erfreut, wie sich Roy der Situation gewachsen zeigte”, gesteht Hancock. “Ich bin gewohnt, ihn ansonsten in einem sowohl harmonisch als auch melodisch traditionelleren Umfeld zu hören. Es war für uns alle eine Herausforderung, und Roy bewegte sich auf dem neuen Terrain, als wäre er dort geboren worden.”
 
“Directions In Music: Live At Massey Hall” enthält eine Reihe von Stücken, die von Miles Davis bzw. John Coltrane geschrieben wurden oder aber mit ihnen assoziiert werden. Da ist zunächst einmal die von Coltrane stammende nachdenkliche Ballade “Naima”, die dieser 1959 erstmals für sein Atlantic-Album “Giant Steps” aufnahm. Ebenfalls von Coltrane, aber musikalisch ganz anders, ist das stürmische “Transition”, der Titelsong des Impulse-Albums, das 1965 einen stilistischen Richtungswechsel des Saxophonisten einläutete. Ein genialer Schachzug der Band war es, Miles Davis` “So What” von dessen 1959er Columbia-Album “Kind Of Blue” mit dem 1961 entstandenen Titelstück von John Coltranes atemberaubenden Impulse-Album “Impressions” zu kombinieren. Eine brillante Version von Kurt Weills “My Ship”, von Miles erstmals 1957 für “Miles Ahead/Miles Davis +19” (Columbia) eingespielt, rundet die Auswahl der Klassiker ab.
 
Neben diesen Standards der Jazzliteratur interpretierte das Quintett jedoch auch einige selbst geschriebene Kompositionen wie etwa “D Trane”, Michael Breckers Hommage an John Coltrane. “Ich denke, daß in diesem Song sowohl etwas von Coltrane als auch von Miles widerhallt. Und darüber hinaus macht es riesigen Spaß, dieses Stück zu spielen”, meint Brecker. So wie “Transition” und “So What / Impressions” bietet auch Breckers “D Trane”, der mit 15 Minuten Spieldauer der längste Track des Albums ist, den Solisten reichlich Raum für Improvisationen. Vor allem diese drei Stücken von epischer Länge vermitteln dem Hörer bestens die Konzertatmosphäre.
 
Und dann ist da noch eine neue Komposition, die in Wirklichkeit weniger eine neue Komposition ist, sondern eher Ergebnis einer ausgefallenen Übung für kreatives Komponieren, die Herbie Hancock vor rund 35 Jahren durch Miles Davis kennenlernte. Das fragliche Stück (für das Hancock, Brecker und Hargrove hier als Urheber genannt werden) ist “Misstery”, und der eigentliche Name dieser Miss ist für Jazzkenner keineswegs ein Mysterium. Ihr Name ist Stella, wie in “Stella By Starlight”. Hancock klärt auf: "Als ich bei Miles war, hatten wir immer eine Probe, wo jeder seine eigenen Kompositionen mitbringen durfte. Einmal passierte es aber, daß keiner etwas mitgebracht hatte. Miles legte mir ein Manuskript mit einigen Akkorden auf?s Piano, ließ mich aber nicht sehen, um welchen Song es sich handelte. Er zeigte auf eine Stelle irgendwo in der Mitte des Manuskriptes und sagte: `Fang hier mit dem Spielen an.` Ich spielte die beiden ersten Takte, die im Mittelteil der Manuskripts standen, dann stoppte er mich, zeigte auf eine andere Stelle und meinte: `Jetzt spiel die beiden Takte vor dem Mittelteil.` So ging es weiter, bis ich an den Anfang des Stückes gelangte und erkannte, daß es sich um `Drag Dog` vom Album “Someday My Prince Will Come” handelte. Wir nannten das neue Stück “Circle”; es war – auf sehr verschlungene Art – exakt dasselbe musikalische Material, aus dem “Drag Dog” bestand. Und genau so wie sich “Circle” zu “Drag Dog” verhielt, verhält sich nun auch “Misstery” zu “Stella By Starlight”."
 
Hancocks “The Sorcerer” wiederum war das Titelstück von Miles Davis` 1967er Columbia-Album “Sorcerer”. Der Titel (“Der Hexenmeister”) war damals Hancocks Spitzname für Davis. “Für die Tournee schrieb ich ein neues Arrangement”, sagt der Pianist. “Es ist ganz anders als das Original, läßt aber trotzdem noch den Einfluß spüren, den Miles seinerzeit, als ich in meinen Zwanzigern war, auf mich ausübte.”
 
Roy Hargrove widmete Miles eine eigene Komposition namens “The Poet”. “Ich dachte beim Schreiben an das Miles Davis Quintet der 60er Jahre, als dieses zu einem Sound fand, der über die üblichen Strukturen hinausging”, meint Hargrove. “Mein Stück war etwas in dieser Art. Dann gab ich Herbie den Song zur harmonischen Überarbeitung, und dabei ist dann ein ganz anderes Stück herausgekommen.”
 
Das Konzept für die “Directions In Music”-Tournee stammte von dem Konzertagenten Scott Southard. Das Live-Album entstand eher zufällig als Nebenprodukt dieser Tour, auch wenn einen die Wahl des Aufnahmeortes weniger an Zufall glauben läßt. Das Konzert ging nämlich an historischer Stätte über die Bühne. In der Massey Hall schrieb schon 1953 ein anderes Quintett ein bedeutendes Kapitel Jazzgeschichte, das auf Tonträger dokumentiert wurde. Die Besetzung: Dizzy Gillespie, Charlie Parker, Bud Powell, Charles Mingus und Max Roach.

Die Canadian Broadcasting Corporation (CBC), ein Sponsor des Konzertes vom 25. Oktober 2001, schnitt den Auftritt eigentlich nur für eine spätere Übertragung mit. Als die Musiker sich die Aufnahmen anhörten, gefielen sie ihnen aber so gut, daß – so Hancock – “wir uns fragten, ob Verve sie vielleicht veröffentlichen würde. Es war eines unserer besten Konzerte gewesen und der Mitschnitt repräsentierte wirklich hervorragend, worum es uns bei dieser Tour gegangen war. Die großartigen Vibes der alten Aufnahme hingen immer noch in der Luft der Massey Hall.”
 
Wie das begeisterte Tosen der Menge auf “Directions In Music: Live At Massey Hall” beweist, haben Hancock, Brecker, Hargrove, Patitucci und Blade am Abend des 25. Oktober 2001 in der ehrwürdigen alten Massey Hall ein weiteres Kapitel höchst lebendiger Jazzgeschichte geschrieben.
 
Musiker: Herbie Hancock – piano / Michael Brecker – tenor sax / Roy Hargrove – trumpet & flugelhorn / John Patitucci – bass / Brian Blade – drums
Songs: The Sorcerer (Herbie Hancock) / The Poet (Roy Hargrove) / So What (Miles Davis) – Impressions (John Coltrane) / Misstery (Herbie Hancock – Michael Brecker – Roy Hargrove) / Naima (John Coltrane) / Transition (John Coltrane) / My Ship (Kurt Weill – Ira Gershwin) / D Trane (Michael Brecker)
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