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Dave Holland Quintet: Spaß als oberstes Gebot

14.02.2001
Es gibt nicht wenige, die Dave Holland für den größten Bassisten unserer Zeit halten. Auch wenn er z.B. in den “Down Beat Polls” über viele Jahre hinweg stets nur den zweiten Platz hinter Charlie Haden belegt hat.
Das Thema Rhythmus kommt immer zur Sprache, wenn der Bassist Dave Holland über Musik spricht. Vertrackte Metren kamen in seinen Stücken immer natürlich und ungezwungen daher, und seine neue Quintett-Aufnahme ist ein modernes Jazzalbum, das Rhythmen enthält, die von den traditionellen Musiken arabischer, afrikanischer und anderer Kulturen inspiriert wurden. “Ich bin ständig bestrebt, neue Rhythmen zu sondieren”, sagt Holland. “Rhythmus ist für mich essentiell: für mich als Musiker ist Rhythmus eines der grundlegendenen Kommunikationsmittel. Ich habe festgestellt, daß es egal ist, wie kompliziert die Harmonien einer bestimmten Komposition sind; wenn der Rhythmus wirkungsvoll vermittelt wird, kann selbst das komplexeste Element eines Stückes verstanden werden.”
 
“Prime Directive” ist das Nachfolgewerk von Hollands Grammy-nominiertem 1997er Album “Points Of View”. Kurz nach der Einspielung von “Points Of View” löste Saxophonist Chris Potter Steve Wilson im Quintett ab, und seither hat die intensive Konzerttätigkeit der Band deren Energiepotential erhöht und die allgemeinen Interaktionen verdichtet. “Diesmal genossen wir den Luxus, herauszufinden, zu was wir als Einheit so in der Lage sind, bevor wir ins Studio gingen”, erläutert Holland. “Und die Tatsache, daß wir eine vollkommener entwickelte Gruppenidentität haben, bedeutete, daß die für ‘Prime Directive’ geschriebene Musik besser auf die einzelnen Persönlichkeiten der Bandmitglieder zugeschnitten werden konnte.”
 
Von den neuen Stücken des Albums stammen fünf aus der Feder Hollands. Der Bassist und Komponist bezeichnet das Titelstück als eine “Jam-Nummer” und vergleicht es mit einer “Bandfeier oder -party”. Als er dabei war, das Quintett zusammenzustellen, “…unterhielt ich mich mit meiner Frau Claire darüber, was wäre, wenn die Band keinen Spaß miteinander hätte, und das dann wohl etwas verkehrt wäre. Wir entschieden noch im selben Augenblick, daß dies das oberste Gebot (‘prime directive’) sein müsse. Im Tourbus sagte ich dann allen, daß die Gruppe an dem, was wir unternehmen würden, Spaß haben werde.” Monate später taufte Billy Kilson ein neues, quirliges und noch titelloses Holland-Stück “Prime Directive”. Die Komposition “Make Believe” wurde unmittelbar vor ihrer Einspielung geschrieben.
 
Die rhythmische Struktur im 5/4 lernte Holland während seiner Zusammenarbeit mit dem tunesischen Oud-Virtuosen Anouar Brahem kennen. “Anouar machte mich mit dieser Art Rhythmus der arabischen Musik bekannt – er alterniert zwei Gruppen von jeweils fünf Beats, erst 3 und 2 und dann 2 und 3”, erklärt Holland. “Als ich das letzte Mal mit ihm auf Tournee war, fand das Abschlußkonzert in seiner Heimatstadt Tunis statt. Bei einem Dinner hörte ich dort eines Nachts einen wunderbaren Musiker. Er bemerkte, daß ich ihm auf die Finger schaute, und signalisierte mir die Rhythmusstruktur. Wie sich herausstellte, war es genau jene, die mir Anouar gezeigt hatte. Kurz danach war ich mit dem Quintett in China, und als ich Billy diesen Rhythmus erklärte, ergab sich zufällig die Struktur, mit der dieser Song beginnt. Wir waren in der Verbotenen Stadt und haben andere fantastische, geradezu unglaubliche Orte gesehen, und das hat uns schließlich zu dem Titel dieses Stückes inspiriert.”
 
“Jugglers Parade” stellt einen anderen Rhythmus vor, der Holland fasziniert: einen 9/8, der aus Sektionen mit fünf und vier Beats besteht. Holland erinnert sich, daß er, als er mit diesem Rhythmus zu arbeiten anfing, zunächst die Baßfigur entwarf und erst danach begann, die Melodie zu entwickeln, eine Figur, bei der Steve Nelsons Marimbaspiel fast schon wie ein afrikanisches Daumenpiano klingt. “Ich erwischte mich dabei, wie ich an unseren China-Trip dacht, und dabei kam mir das Bild einer Parade mit Akrobaten und Jongleuren in den Sinn”, führt Holland aus. “Darüberhinaus jonglierten wir auch mit der Time, während wir das Stück spielten. Aber das Bild der vorbeiziehenden Parade ist auch eine visuelle Analogie der Komposition, die damit beginnt, daß Billy die Intro spielt, bevor Steve hinzukommt. Danach steige ich ein und schließlich auch Chris und Robin. Die Parade wird nach acht Minuten wieder von Marimba und Schlagzeug beendet.”
 
Den Abschluß von “Prime Directive” bildet “Down Time”, eine Trio-Performance von Posaune, Baß und Schlagzeug. “Ich wollte ein Feature für Robin Eubanks schreiben. Die einleitende Phrase ist mir schon vor ein paar Jahren eingefallen, aber bislang habe ich sie nur so zu meinem Privatvergnügen auf dem Baß gespielt”, erinnert sich Holland. “Robin hatte die Idee, seine Posaune mit Plunger zu spielen, und das paßte hier ganz ausgezeichnet. Für mich ist dieser Song ein Blues – nicht ein wirklicher 12-taktiger Blues, aber ein Stück mit einem Blues-Flavour.”
 
Auch die anderen vier Mitglieder des Quintetts haben je eine Komposition zum Repertoire des Albums beigesteuert. “Sie beschäftigen sich mit ähnlichen musikalischen Konzepten und sind ständig auf der Suche nach anderen rhythmischen Strukturen und kompositorischen Formen. Die Qualität ihrer Arbeit spiegelt die Tatsache wider, daß im Laufe der Zeit, die wir miteinander verbracht haben, jeder die Chance hatte, den jeweils anderen wirklich zuzuhören und dann kompositorische Szenarien zu entwerfen, die sein individuelles Bild von dem reflektieren, was er meint, mit dieser Band machen zu können.”
 
“Robin schreibt Musik, die sehr programmatisch ist und in der sich viel ereignet. Sein Song ‘A Searching Spirit’ ist sehr orchestral, entwickelt sich wundervoll und hat einen gewissen kubanischen Einschlag. Chris' ‘High Wire’ ist eine sehr swingende Nummer mit einer interessanten Form, in der Elemente zu hören sind, die – meines Erachtens – die Geschichte des Jazz reflektieren, während Steves ‘Candlelight Vigil’ – ein zärtliches, durchkomponiertes Stück mit einem kleinen Improvisationspart – über eine herrliche Beseeltheit und Fragilität verfügt, die ich absolut liebe.”
 
Mit annähernd 14 Minuten ist Billy Kilsons “Wonders never Cease” das längste Stück des Albums und, wie Holland sagt, dasjenige, das die Live-Qualitäten des Quintetts am besten repräsentiert. “Billys Stück führt vor, wie wir einen Song bei einem Konzert spielen, wie wir für jeden Abschnitt ein anderes Szenario entwerfen. Hier geht es mit einem Solo von mir los. Der Intro folgt ein Trio-Teil, bevor die beiden Bläser ein thematisches Statement abliefern, dem sich wiederum zunächst ein Vibraphon-Solo anschließt, dann ein Duett zwischen Chris und Robin und schließlich ein weiterer Teil mit notiertem Material, über das Billy ein Schlagzeug-Solo spielt.”
 
Das Dave Holland Quintet wird die Musik von “Prime Directive” im Oktober und November auf einer ausgiebigen Europa-Tournee auch live vorstellen. Den Auftaktkonzerten in Frankreich werden Auftritte in Deutschland (Details im JazzEcho-Tournee-Kalender!!!), Italien, der Schweiz, Österreich, Portugal, Dänemark, Schweden und England folgen. Natürlich wird das Dave Holland Quintet auch bei “Selected Signs”, einem Festival zur Feier des 30. Geburtstages des ECM-Labels, in Brighton mit von der Partie sein.