Die Aufnahmen von “Hyperion With Higgins” wurden bei denselben Sessions mitgeschnitten, bei denen auch die Einspielungen für Charles Lloyds letztes Album “The Water Is Wide” entstanden. Wie man mittlerweile weiß, zählen diese Aufnahmen mit zu den letzten Studioarbeiten des Schlagzeugers Billy Higgins, der am 2. Mai 2001 nach langwieriger Lebererkrankung im Alter von gerade mal 65 Jahren verstarb.
Higgins und Lloyd waren schon miteinander befreundet, als sie noch Teenager waren und in den 50er Jahren eine gemeinsame Band in Los Angeles unterhielten, in der zeitweise auch Don Cherry, Scott LaFaro und Bobby Hutcherson mitwirkten. Damals allesamt noch Nobodies, aufstrebende junge Talente, die darauf warteten, erst entdeckt zu werden, sollten sie schon ein paar Jahre später maßgeblichen Anteil an der Erneuerung des Jazz haben. Die musikalischen Wege von Charles Lloyd und Billy Higgins kreuzten sich in den darauffolgenden Jahrzehnten immer wieder. Bereits 1996 widmete der Saxophonist seinem Schlagzeug spielenden Freund, den er nie aus den Augen verloren hatte, ein ganzes Album: “Canto”. Die musikalische Beziehung der beiden wurde aber erst zwei Jahre später wieder intensiver, als Lloyd mit dem Schlagzeuger sowie John Abercrombie und Dave Holland die von der Kritik hochgelobte CD “Voice In The Night” aufnahm. Das Album verdankte seinen Elan nicht zuletzt Billy Higgins' lebhaften Beats. In den darauffolgenden drei Jahren war Higgins aus Lloyds Ensemble nicht mehr wegzudenken.
“Wir haben zusammengespielt, seit wir 18 waren”, erinnert sich Lloyd. “Billy war ein spiritueller Meister, der sein Instrument auf ein Niveau hob, wo er ‘im selben Moment’ hören und spielen konnte, was auch immer die Musik gerade erforderte.” Diese Qualitäten wurden Higgins übrigens auch von anderen großartigen Jazzmusikern des letzten halben Jahrhunderts bescheinigt, die mit ihm zusammengespielt haben: etwa von John Coltrane, Thelonious Monk, Ornette Coleman, Sonny Rollins, Cecil Taylor, Don Cherry, Dexter Gordon und vielen anderen. “Sein Beat und seine Kreativität verleihen der Musik Leben. Ich glaube fest an die Behauptung, daß eine Jazzband nur so gut ist wie ihr Schlagzeuger”, meinte zum Beispiel Gitarrist John Scofield in den Linernotes seines letzten Albums “Works For Me”, das knapp vier Monate vor dem Tod von Higgins entstand. “Wenn man Mr. Higgins hinter sich weiß, möchte man aufspringen und vor Glück schreien”, meinte Charles Lloyd einst in einem Interview. “Man hat den Eindruck, man könne über Wasser wandeln. Von allen Schlagzeugern, die ich kenne, ist er der minimalistischste, man sieht kaum, daß er sich bewegt. Sein Drum-Kit ist immer auf das Notwendigste reduziert; nie läßt er sich zu Mätzchen hinreißen; er kann alles spielen und braucht dabei keine großen Gesten zu machen.”
Higgins' Scharfsinn und schnelle Auffassungsgabe sind auch auf “Hyperion With Higgins” unverkennbar. Die Rolle des Schlagzeugers ist hier so fundamental, wie sie seinerzeit bei der Einspielung von Ornette Colemans bahnbrechenden Alben “Change Of The Century” oder “Free Jazz” war. Higgins verglich die beiden Bandleader einmal miteinander und kam zu dem Schluß, daß Lloyd und Coleman “vollkommen unterschiedliche Typen sind, die aber beide dieselbe Sache suchen und immer nach Neuland Ausschau halten.”
“Hyperion With Higgins” und “The Water Is Wide” entstanden im Laufe von nur einer Woche in einem Studio in Los Angeles. Lloyd entschied sich für diese Örtlichkeit aus zwei Gründen. Der erste war sentimentaler Art: Der Saxophonist wollte mit seiner Musik zum geographischen Punkt ihrer Herkunft zurückkehren. Der andere war eher pragmatischer Natur: Da sowohl Brad Mehldaus als auch Larry Grenadiers Terminkalender kaum Spielraum zuließen, war es angebracht, die Sessions in Los Angeles, wo die beiden wohnhaft sind, stattfinden zu lassen. Ein weitere positiver Nebeneffekt: Der ebenfalls dort lebende Billy Higgins konnte sein eigenes Schlagzeug ins Studio mitbringen.
Die Band setzte sich zu drei Fünfteln (Lloyd, Abercrombie & Higgins) aus den Musikern zusammen, die zuvor schon “Voice In The Night” aufgenommen hatten, und zu zwei Dritteln (Mehldau & Grenadier) aus Mitgliedern des Brad Mehldau Trios: eine ausgewogene Mischung aus alten und jungen Löwen also. Gitarrist John Abercrombie schlüpft hier übrigens in die Rolle, die in den 60er Jahren der legendäre Gabor Szabo in der Band von Lloyd innehatte. Und der momentan groß gefeierte Mehldau knüpft an die Tradition der großartigen Pianisten an, die in den Ensembles von Lloyd einst mit Keith Jarrett begann und später durch Michel Petrucciani und zuletzt Bobo Stenson fortgeführt wurde.
Die dominierende Stimmung von “Hyperion With Higgins” unterscheidet sich deutlich von der des Vorgängeralbums “The Water Is Wide”, das in Japan mit einem “Gold Disc Award” des Swing Journal ausgezeichnet wurde und die Jahres-Bestenlisten zahlreicher Zeitungen und Magazine (u.a. New Yorker, Süddeutsche Zeitung, Entertainment Weekly und Jazzman) anführte. “Hyperion With Higgins” zeigte die etwas extrovertiertere Seite dieses exzellenten Quintetts und dürfte mindestens genauso viel Begeisterung hervorrufen wie “The Water Is Wide”.
Musiker: Charles Lloyd – tenor sax, taragato & maracas / John Abercrombie – guitar / Brad Mehldau – piano / Larry Grenadier – double-bass / Billy Higgins – drums
Songs:Dancing Waters, Big Sur To Bahia / Bharati / Secret Life Of The Forbidden City / Miss Jessye / Hypernion With Higgins / Darkness On The Delta Suite / Dervish On The Glory B / The Caravan Moves On?