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Carla Bley Big Band – Appearing Nightly

27.08.2008
Carla Bley And Her Remarkable! Big Band verkündet selbstironisch das an alte Schellackzeiten erinnernde Cover der CD “Appearing Nightly”. Das Album wurde im Juli 2006 live in dem bekannten Pariser Jazzclub New Morning aufgenommen und bietet neue, aber nostalgisch klingende Songs. “Wir konnten die Vergangenheit nicht in die Gegenwart zurückholen”, meint Carla Bley, “aber dies war eine Gelegenheit, den wundervollen Bigbands und großartigen Songwritern, die die amerikanische Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert haben, unseren Respekt zu zollen.” Ihre wie stets exzellent besetzte 17köpfige Bigband spielt sich durch das von Carla komponierte und arrangierte Programm mit Witz, Charme und Drive. “Die Musik, die sie für große Jazzbands schreibt, kann man aufgrund des sehnsuchstvollen Lyrizismus, der explosiven Begeisterung und anderen Ausdücken der Conditio humana nur mit jener von Duke Ellington und Charles Mingus vergleichen”, schrieb Nat Hentoff über Carla Bley im Wall Street Journal. Wie stets erzählt die mitteilungsfreudige Carla Bley die Entstehungsgeschichte dieses brillanten neuen Albums selber.
"Als ich jung war, traten Bigbands in den New Yorker Jazzclubs noch regelmäßig auf. Dadurch, daß ich als Zigarrettenverkäuferin im Birdland oder als Garderobiere im Basin Street oder der Jazz Gallery arbeitete, war es mir jeden Abend vergönnt, Count Basies und viele andere große Bands zu hören. Die Clubs waren dunkel und verraucht. Zwischen den Auftritten bestellten die Leute Drinks und unterhielten sich und lachten. Die Musik war kultiviert und swingte fulminant.

Zur Musik, die ich für dieses Album schrieb, wurde ich durch die Atmosphäre der Nachtclubs in den 50er Jahren inspiriert. Alles begann damit, daß ich für das Monterey Jazz Festival 2005 den Auftrag erhielt, eine Bigband-Komposition zu schreiben und dort aufzuführen. Auf der Suche nach einem Ansatzpunkt mußte ich sofort an das Black Orchid denken, einen Nachtclub in Monterey, in dem ich als 17jährige einen Job als Pianistin erhalten hatte. Um das Piano herum war eine Bar gebaut worden, und die Soldaten von dem nahegelegenen Militärstützpunkt saßen dort und hörten mir zu, während ich Standards spielte. Oft kam einer von ihnen zu mir und bat mich darum, seinen Lieblingssong zu spielen. Aber ich hatte nur ein sehr begrenztes und sorgfältig arrangiertes Repertoire und spielte nichts, was ich nicht mochte, und konnte auch nichts vortäuschen, was ich nicht kannte. Es war mein erster und letzter Job als Lounge-Pianistin. Ein paar meiner Erinnerungen an diese frühen Tage (und späten Nächte) verarbeitete ich in dem Stück, das ich für das Festival schrieb. Ich nannte es ‘Appearing Nightly At The Black Orchid’ und gab seinen vier Teilen einzelne Titel, die den Ablauf eines Auftrittsabends in einem Nachtclub beschreiben: ’40 On/20 Off', ‘Second Round’, ‘What Would You Like To Hear?’ und ‘Last Call’.
Ich war mit dem fertigen Stück sehr zufrieden und dachte mir, es könnte interessant sein, für eine zukünftige Tournee mit der Bigband noch mehr Musik zu schreiben, die mit dieser Ära in Zusammenhang stand. Das Anstarren des leeren Notenblatts (denn damit beginnt bei mir immer der Kompositionsprozess) versuchte ich aufzuschieben, indem ich erst einmal neue Arrangements für Songs meiner Lieblings-Tin-Pan-Alley-Komponisten schrieb. Aber die besten dieser Songs waren nicht darauf angewiesen, daß ich ihnen etwas hinzufügte. Und da ich kein Interesse an den Songs hatte, die ein bißchen Aufmöbelung vertragen konnten, verlegte ich mich auf das Schreiben neuer Musik und wartete darauf, daß mir ein grandioser Plan in den Sinn kam.

Das nächste Stück, das ich komponierte, enthielt ein zweitaktiges Zitat von einem Gershwin-Song. Das fiel mir erst ganz am Ende des Stücks ein und war auch nicht geplant gewesen, aber es war ein ermunterndes Signal. Ich dachte mir, daß ich einen Teil des Gershwin-Titels übernehmen sollte und nannte das Stück deshalb ‘Someone To Watch’.

Dann hatte ich Glück und begann eine Melodie zu komponieren, die einer alten Kamelle von Ray Noble so ähnlich war, daß ich das Stück schließlich zu einem Arrangement seines Songs umarbeitete. Erneut entschied ich mich dafür, nur einen Teil des Titels zu übernehmen und nannte das Lied “Till You”. Ich schien keine Kontrolle darüber zu haben, welche Standards ich letztendlich wählte; sie wählten mich.

Dann erhielt ich das noch ausstehende Okay für eine Auftragskomposition für das Orchestra Jazz della Sardegna und mußte meine Arbeit an dem Material für die ‘Appearing Nightly’-Tournee erst einmal unterbrechen. Das Festival, bei dem das Orchestra Jazz della Sardegna mein Werk aufführen wollte, sollte unter dem Titel ‘Dinner Music’ ablaufen. Und so wurde ich gebeten, Musik zu schreiben, die irgendetwas mit Essen zu tun haben sollte. Ich fand das interessant, hatte aber nicht den blassesten Schimmer, wie man Musik nach Essen klingen lassen könnte. Ich überlegte mir mögliche Klangeffekte: etwa mit Gabeln auf Tellern herumzutrommeln oder Kau- und Rülpsgeräusche. Und einen Moment lang fragte ich mich wirklich, ob ich wohl ein überzeugendes ‘süß-saures’ Stück mit ‘bitteren’ Untertönen und einem ‘gesalzenen’ Abgang schreiben könnte. Aber die Ideen wollten einfach nicht ‘gelieren’ und wurden bald ‘schal’. Da ich ‘nichts auf dem Tablett’ hatte, entschloß ich mich, die Ideen ‘auf Eis zu legen’ und wandte mich wieder der Suche nach Referenzen in populären amerikanischen Songs zu.

Im Jahr zuvor hatte ich eine Melodie geschrieben, die im Mittelteil eine Phrase hatte, die verdächtig nach der Titelphrase von ‘Pretty Baby’ klang. Ich hatte in dieser Phrase die Noten geändert und dann von der Melodie gelassen, weil sie in meinen Ohren nicht mehr länger gut klang. Als ich nun Referenzen zu Standards finden mußte, nahm ich die Melodie wieder aus der Ablage, setzte noch einmal die Originalphrase ein (es klang wieder gut) und arrangierte das Stück für die Bigband um. Am Ende benutzte ich unverfroren eine ganze viertaktige Melodie von ‘Greasy Gravy’. Aha! Da hatte ich also einen Titel mit kulinarischem Bezug als auch einen populären Song!

Das fertige Stück war nicht sehr lang und ein bißchen leichtgewichtig. Das hieß also, daß ich für die sardische Band noch ein zweites Stück brauchte.

Glücklicherweise sollte das Beste erst noch kommen. Ich halte ‘Awful Coffee’, das zweite Stück, für meine krönende Kompositionsleistung. (Die Titel ‘Greasy Gravy’ und ‘Awful Coffee’ beziehen sich auf Bemerkungen, die mein kürzlich verstorbener Konzertagent Thomas Stöwsand darüber machte, wie ihm die Sachen während seiner schweren Erkrankung schmeckten. Die beiden Stücke sind ihm gewidmet.) In der Melodie gab es eine Stelle, wo ich einfach nicht weiterkam. Dann hörte ich zufällig einen Hahn seine Hennen ankrähen. Das war die Lösung des Problems! Ich benutzte diesen Sound in dem Stück überall dort, wo ich ihn brauchte. Schließlich ist Hähnchen ein weitverbreitetes Gericht. Aber das war nicht alles. In einem Chorus schaffte ich es, gleich sechs verschiedene Songs mit Essensbezug zu zitieren: ‘Salt Peanuts’, ‘You’re The Cream In My Coffee’, ‘Watermelon Man’, ‘Life Is Just A Bowl Of Cherries’, ‘Hey Pete, Let’s Eat More Meat’ und ‘Tea For Two’. (Ich wünschte, mir wäre da auch noch ‘Mary Had A Little Lamb’ eingefallen.) Dies qualifizierte das Stück locker sowohl für das Programm von ‘Appearing Nightly’ als auch für ‘Dinner Music’.

Ich war fest entschlossen, die Musik in einem Nachtclub aufzunehmen. Das mußte während unserer europäischen Sommertournee und in einem großen Club passieren. Und eine Lokalität kam mir auch sofort in den Sinn. Im New Morning in Paris waren wir regelmäßig aufgetreten und unser dortiges Publikum war immer zahlreich und enthusiastisch gewesen. Ein Telefonanruf… und der Club war für zwei Abende gegen Ende der Tournee unser. Einen Moment lang dachte ich daran, die Band in einheitlichen Smokings und Fliegen auftreten zu lassen. Ich könnte mein Haar hochbinden und ein glitzerndes Cocktailkleid tragen. Wir könnten einen Bluessänger engagieren. Ich würde charmant ins Publikum lächeln und einen Song einem kleinen Jungen und seinem Vater in der vordersten Reihe widmen. Zwischen den Auftritten würden wir Highballs trinken und Zigaretten rauchen. Dann kam ich wieder zu Sinnen. Es ist schwer genug, Musiker aus ihren Jogginghosen und Turnschuhen herauszubekommen. Die Highballs hätten sicherlich ein paar Abnehmer gefunden, aber Zigaretten? Jedweder Bezug zur Vergangenheit mußte rein musikalischer Natur sein.

Wir engagierten Gerard de Haro vom Studio La Buissonne, die Auftritte an den beiden Abenden aufzuzeichnen. Er belegte den Umkleideraum des Clubs mit Beschlag und verwandelte ihn in einen Kontrollraum voller Maschinen und Toningenieure. Es war unmöglich zwischen den Instrumenten Trennwände aufzubauen. Fehler würden deshalb nicht mehr korrigiert werden können. Aber dafür würden wir andererseits einen intimen Klang mit einer Menge Atmosphäre erhalten. Das war exakt das, was mir für das Album vorgeschwebt hatte; wir konnten die Vergangenheit nicht in die Gegenwart zurückholen, aber dies war eine Gelegenheit, den wundervollen Bigbands und großartigen Songwritern, die die amerikanische Kultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert haben, unseren Respekt zu zollen."

 
Carla Bley