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Marc Sinan & Oğuz Büyükberber – Lieder mit einem revolutionären Hintergrund

“White” ist ein stimmungsvolles Duo-Album des Gitarristen Marc Sinan mit dem Klarinettisten Oğuz Büyükberber, das subtil ein weites musikalisches Feld absteckt.
Oğuz Büyükberber, Marc Sinan
Oğuz Büyükberber, Marc SinanMichel Marang / ECM Records
16.05.2018
Seit sich Marc Sinan und Oğuz Büyükberber vor rund einem Jahrzehnt in Istanbul kennenlernten, haben sie schon in einer Reihe von unterschiedlichen Kontexten miteinander gearbeitet. Dabei haben sich die beiden Musiker von entgegengesetzten Polen aufeinander zubewegt: Der in Berlin ansässige Marc wurde als klassischer Gitarrist in der westeuropäischen Tradition ausgebildet, hat sich aber zunehmend für Improvisation und türkisches Material interessiert, während Oğuz als Autodidakt mit türkischer Musik und Jazz begann, bevor er das Konservatorium in Amsterdam besuchte und sich anschließend einen Namen als Improvisationsmusiker und Komponist machte.

Für die Aufnahme ihres gemeinsamen Albums “White” steuerten beide Musiker neue Kompositionen bei: Sinans fünfteilige Komposition “Upon Nothingness” ist u.a. eine musikalische Antwort auf Aufnahmen von Liedern armenischer Kriegsgefangener, die während des Ersten Weltkriegs nach Deutschland deportiert worden waren. Die historischen Originalaufnahmen dieser Lieder verknüpfte er eng mit seinen eigenen Stücken, bei denen auch großzügig elektronische Mittel eingesetzt wurden, um die Linien zwischen dem Realen und dem Surrealen zu verwischen. Mit “There, I-V” präsentiert Oğuz Büyükberber ebenfalls eine Reihe von miteinander verknüpften Stücken, die stellenweise komplett auskomponierte Teile, gelenkte Improvisationen und freies Spiel beinhalten.

Sinan und Büyükberber lernten sich 2009 kurz nach der Veröffentlichung des Albums “Fasil” kennen, das  Marc mit Julia Hülsmann eingespielt hatte. Eine entscheidende Rolle spielte dabei Tansu Özyurt vom türkischen ECM-Vertrieb. “Tansu meinte, dass mir die Arbeiten von Oğuz gefallen könnten”, erinnert sich Sinan, “und das taten sie auch. Sein musikalischer Ansatz ist sowohl sehr abstrakt als auch sehr geschmackvoll. Als ich dann 2012 für drei Monate in Istanbul lebte und einige Musiker zu einem Konzert des Goethe-Instituts einladen konnte, setzte ich mich mit ihm in Verbindung.” Sinans erstes Konzert mit Oğuz und dem Ney-Spieler Burcu Karadağ basierte auf Material des Komponisten und Musiktheoretikers Dimitrie Cantemir, der als einer der ersten die osmanische Musik zu Papier brachte. Büyükberber setzte die Zusammenarbeit mit Sinan fort. So war er etwa 2013 auf “Hasretim: Journey To Anatolia” zu hören, dem zweiten ECM-Album des Gitarristen. Außerdem wirkte er an dem Hörstück “Oksus” mit, das Marc als “einen musikalischen Road-Trip durch Usbekistan” bezeichnet, und an dem “dokufiktiven” Musiktheaterstück “Komitas” über den Völkermord an den Armeniern, das im April 2015 im Berliner Gorki-Theater uraufgeführt wurde. Die Field Recordings, die man jetzt auf “White” hört, verwendete Sinan auch schon in seinem “Komitas”-Projekt.

“Die Lieder”, sagt Marc Sinan, “haben alle einen revolutionären Hintergrund oder eine revolutionäre Atmosphäre sowie eine Gebrochenheit, die man spürt, wenn man sich die Originalaufnahmen anhört. Ich reagiere auf den musikalischen Inhalt und den emotionalen Ausdruck in den Liedern, mache die Gefühle, die in mir ausgelöst werden, hörbar und teile meine eigene Wahrnehmung von ihnen, indem ich sie in den Mittelpunkt meiner Kompositionen stelle.” 

“Upon Nothingness, White” ist ein Gemeinschaftswerk der beiden Musiker. "Es ist im Grunde genommen eine Solokomposition für Gitarre, die von Oğuz geschrieben wurde und die ich so sehr verändert habe, dass wir sie nun als unsere verbindende gemeinsame Komposition betrachten", erläutert Sinan. “Wir wollen dadurch zu erkennen geben, dass wir als Duo sehr symbiotisch sind. Im Laufe unserer Zusammenarbeit sind wir enge Freunde geworden und haben heute ein enormes Vertrauen in die musikalischen Entscheidungen des anderen, was sich auch, glaube ich, in der Art und Weise widerspiegelt, wie wir zusammenspielen.” Büyükberber ist hier auch der Einsatz der Elektronik zu verdanken. “Auf dieser Aufnahme wurde der Klang der Gitarre meist manipuliert, auch wenn das nicht immer hörbar ist. Was mich am meisten interessiert, ist die Auflösung der Klarheit darüber, was real und was virtuell ist. Das ist etwas, das ich entwickelt habe, seit ich mit Oğuz zusammenarbeite. Obwohl er in dieser Hinsicht schon viel weiter gegangen ist als ich. Er spielt oft einen modularen Synthesizer, der auch bei unseren letzten Konzerten zum Einsatz kam.”

Inspiriert von Ligeti, Varese, Messiaen und Stockhausen (“all den alten Meistern”) setzte sich Oğuz Büyükberber mit elektronischer Musik auseinander, bevor er Klarinettist wurde. Und seine Passion für Elektronik hat nie verloren. “Ich benutzte nun schon seit fast 20 Jahren Live-Elektronik bei Aufführungen und ich setzte sie oft auch ein, um die Klangpalette meiner Klarinette zu erweitern – obwohl ich in meinen eigenen Kompositionen auf ‘White’ rein akustisch spiele.” Eine inspirierende Kraft in seinem Leben war aber auch der Jazz. Anfang der 90er Jahre arbeitete er als “Dolmetscher und Tourmanager” für Künstler wie Cecil Taylor, Sonny Rollins, Max Roach und Steve Lacy. “Diese genialen Musiker prägten meine Wahrnehmung von Musik, ob wir sie nun Jazz nennen oder nicht. Ich bin total in diese Tradition verliebt.” Für einen Bassklarinettisten wie ihn ist der prägende Einfluss Eric Dolphys natürlich “unvermeidlich”. Als “Standartenträger des Jazz oder eines anderen Genres” betrachtet er sich nicht, auch wenn sein letztes eigenes Album “Off Monk” mit Dekonstruktionen von Thelonious Monk aufwartete und Jazzer wie Simon Nabatov, Jim Black und Gerry Hemingway oft sein Spielpartner sind. Einige Jahre lang arbeitete Oğuz als Assistent des Dirigenten, Komponisten und Trompeters Butch Morris und erinnert sich gerne daran zurück, wie er als Vermittler zwischen Morris' Ensemble und einer türkischen Sufi-Gruppe fungierte. Diese Erfahrung kam ihm auch bei einige von Marc Sinans Experimenten zugute. “Ich habe auch viel mit Musikern aus Griechenland und vom ganzen Balkan  gearbeitet. Die sich überschneidenden Musiktraditionen des riesigen geographischen Gebiets, das sich von Ungarn bis zum Iran erstreckt, haben mich fasziniert und beeinflusst.”