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Improvisation als Mittel zur Aufhebung kultureller Grenzen

Bei ECM erscheinen auf einen Schlag drei Alben, die vor allem die transkulturelle Komponente des Jazz hervorheben.
Yeahwon Shin
Yeahwon Shin© Nadia F. Romanini / ECM Records
20.08.2013
Musik wird gerne als eine universelle Sprache bezeichnet. Und für kein anderes Genre gilt dies mehr als für den Jazz. Das Gravitationszentrum dieser Musik mögen nach wie vor die USA sein, aber längst tut sich auch vieles an der Peripherie rund um den Globus. Beispielhaft dafür sind drei neue Alben, die nun bei ECM Records erscheinen und gerade diese transkulturelle Komponente des Jazz hervorheben. Auf “Kula Kulluk Yakisir Mi” kommt es zu einer Begegnung zwischen Kayhan Kalhor, dem iranischen Meister der traditionellen Streichlaute Kamancheh, und dem anatolischen Lautenvirtuosen Erdal Erzincan. Der in Berlin lebende Gitarrist und Komponist Marc Sinan, der selbst einen multikulturellen Hintergrund hat, begab sich für das Projekt “Hasretim” mit türkischen und armenischen Musikern sowie den Dresdner Sinfonikern auf eine musikalische “Journey To Anatolia”. Und die südkoreanischen Sängerin Yeahwon Shin arbeitete für ihr neues Album “Lua Ya” mit dem aufstrebenden Pianisten Aaron Parks und dem Akkordeonspieler Rob Curto zusammen, der nicht nur musikalisch zwischen den USA und Brasilien hin- und herpendelt. Bei all diesen Projekten spielen die Improvisation und die Aufhebung kultureller Grenzen eminent wichtige Rollen.
Kayan Kalhor und Erdal Erzincan abseits sklavischer Traditionspflege
Die Projekte des iranischen Kamancheh-Maestros Kayan Kalhor haben immer wieder erstaunliche musikalische Mischformen zum Blühen gebracht. Seine Zusammenarbeit mit dem anatolischen Baglama-Lautenvirtuosen Erdal Erzincan ist eine der erstaunlichsten darunter. Der Titel ihres neuen Albums stammt von einem gleichnamigen Volkslied des großen Baglama-Spielers Muhlis Akarsu und bedeutet “Wie ungebührlich es ist, jemandem sklavisch zu folgen”. Dieser Leitsatz ist für alle Lebenssphären von Relevanz – die persönliche, die politische und die spirituelle. Auf ihrem zweiten Duo-Album (2004 erschien bei ECM “The
Wind”) setzen Kayan Kalhor und Erdal Erzincan das Motto künstlerisch um.
Für die intensive und faszinierende Live-Performance, die auf “Kula Kulluk Yakisir Mi” dokumentiert ist, griff das Duo bei seinen Improvisationen auf Musik aus verschiedenen Regionen der Türkei und traditioneller persischer Herkunft zurück. Doch bei all ihrem Respekt vor den Traditionen,verfallen die beiden Musiker nicht in unreflektiertes Nachspielen. Sie lassen ihre Melodien sich gegenseitig umschlingen und kreieren so eine Instrumentalmusik, in der Tradition und innovative Abenteuerlust sich nicht gegenseitig ausschließen.
Yeahwon Shin verbindet die Ausdruckskraft des brasilianischen Portugiesisch mit der des Koreanischen
“Lua Ya”, das ECM-Debüt der südkoreanischen Sängerin Yeahwon Shin, ist ein Album mit sanften Songs, die in der besonderen Akustik der Mechanics Hall bei Boston aufgenommen wurden. Das intuitiv zusammengestellte Programm entstand, wie Yeahwon sagt, “indem wir improvisierten, Kindheitserinnerungen austauschten und die Musik fließen ließen”. Shin und Pianist Aaron Parks hatten vor der Aufnahme erst einmal zusammengespielt, fanden aber “auf Anhieb eine Verbindung auf der improvisatorischen Ebene”, die hier nun tiefer ausgeleuchtet wird.
Akkordeonspieler Rob Curto teilt mit Yeahwon eine Vorliebe für brasilianische Musik und hat mit ihr schon auf ihrem für einen Latin-Grammy nominierten Album “Yeahwon” gearbeitet. “Lua Ya” ist ein Projekt, das über idiomatische Barrieren hinausgeht. Koreanische Kinderlieder gehören darauf zu den Inspirationsquellen, gleichzeitig sind Phantasie und Phrasierung aller drei Beteiligten vom Jazz beeinflusst. Während Shin bei ihrem ersten Album enorm viel Zeit in die Arrangements investiert hatte, entschied sie sich nun, überhaupt nichts zu arrangieren. “Ich wollte etwas wirklich Spontanes machen und musste darauf vertrauen, dass ich dazu fähig war”, sagt die Sängerin. Nachdem sie auf “Yeahwon” in Portugiesisch gesungen hatte, gab sie diesmal ihrer Muttersprache den Vorzug. “Beim Improvisieren versuchte ich ein Sprache zu kreieren, die sowohl von der Ausdruckskraft des Portugiesischen als auch des Koreanischen beeinflusst ist. Während der Aufnahmen verschwendete ich aber keinen Gedanken daran – ich ließ den Klang der Stimme einfach fließen. Aber wenn ich mir das Ergebnis jetzt im Nachhinein anhöre, bemerke ich, dass diese Einflüsse da sind.”
Marc Sinan begibt sich auf die Suche nach seiner kulturellen Identität
“Hasretim” (zu Deutsch: “Meine Sehnsucht”) ist ein multimediales Forschungsprojekt und eine musikalische Reise auf der Suche nach kultureller Identität: 2009 brachen der in Berlin lebende Gitarrist und Komponist Marc Sinan zu einer ungewöhnlichen Reise auf, deren Route ihn von der Schwarzmeerküste, wo seine Großeltern gelebt hatten, an die armenische Grenze führte. Unterwegs spürte er Meister der traditionellen Musik auf, deren Kunst heute im Sterben begriffen ist, und filmte sie.
Dabei fing er eine Musik ein, die von urwüchsigem Temperament kündet und die Spuren der kulturellen und ethnischen Vielfalt Anatoliens trägt.
“Hasretim” vereint Sinans musikalische Funde unter Beteiligung der Dresdner Sinfoniker mit seiner eigenen zeitgenössischen Musik für ein gemischtes Ensemble (orchestriert und arrangiert von Andrea Molino) mit türkischen und armenischen Gästen. In einer Premiere als “musikalische Installation für Orchester und Video-Dokumente” vorgestellt, wurde “Hasretim” 2011 mit einem Preis der deutschen UNESCO-Kommission ausgezeichnet. Die vorliegende CD/DVD enthält zwei komplette “Hasretim”-Aufführungen sowie die Field Recordings, die Sinan und der Intendant der Dresdner Sinfoniker, Markus Rindt, auf ihrer Reise machten und die ein Fenster zu einer faszinierenden musikalischen Welt öffnen.