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Nels Clines “Lovers” – ambitioniertes Liebesalbum für aufgeklärte Romantiker

Lovers, 2016
Lovers, 2016Nathan West
25.08.2016
Ein Album über die Liebe! “Ach, wie originell!”, mag da manch einer sogleich denken. Und daran will der Gitarrist Nels Cline beinahe dreißig Jahre lang herumgefeilt haben? Das glaubt man erst, dann aber sofort, wenn man es gehört hat. Denn “Lovers” ist keines dieser jazzig-balladesken Liebesalben, die sich säuselnd ins Ohr schmeicheln wollen. Dafür hat es zuviele kleine Widerhaken, die es immer wieder interessant machen und einen über die Spieldauer von zwei CDs mühelos fesseln. Die US-Presse jedenfalls reagierte mit schier überwältigender Begeisterung. “Wie zuletzt Dylan”, meinte etwa der Rolling Stone, “verleiht Cline einer Reihe von ‘American Songbook’-Klassikern eine neue Form”. “Der Lead-Gitarrist der Alt-Rock-Band Wilco”, präzisiert das Wall Street Journal, “stellt eigene Originale Seite an Seite mit Musical-Nummern, Filmmusik, experimentellem Jazz und Punk-Rock-Covern.”
“Die ursprüngliche Idee dazu hatte ich den 1980er Jahren”, erinnert sich Cline. “Wenn ich mit dem Flugzeug unterwegs war, vertrieb ich mir die Zeit damit, Songlisten anzufertigen. Ich fügte im Laufe der Zeit einige Dinge hinzu, strich andere wieder und machte mit Pfeilen Querverweise. Mir schwebte dabei immer eine Platte mit etwas dunkler und beunruhigender ‘Stimmungsmusik’ vor. Ich wollte über weniger berücksichtigte Aspekte der Vorstellung von Romantik, Liebe und Sex reflektieren. Nach und nach wurde die Stimmung dann aber doch etwas optimistischer  und vielschichtiger. Sie ist jetzt mehr lichtdurchflutet – so wie es heute wohl auch mein Leben ist.”
Es ist nicht so, dass Cline, der vom Rolling Stone zu den “besten hundert Gitarristen aller Zeiten” gerechnet wird, in den letzten Jahren viel Grund oder Zeit gehabt hätte, Trübsal zu blasen. Er unterhält eine ganze Reihe eigener Bands und wirkte als Gastsolist oder Sessionmusiker an der Aufnahme von über 200 Alben mit. Seit zwölf Jahren ist er zudem festes Mitglied der gefeierten Alternative-Rock-Band Wilco.
Doch das “Lovers”-Projekt, mit dem er die sinnlich-atmosphärischen Klänge und Gefühle einer längst vergangenen Ära in einem zeitgenössischen musikalischen Kontext wieder heraufbeschwören wollte, ließ ihn nie los. In Produzent David Breskin und Arrangeur Michael Leonhart fand er verwandte Seelen, die ihn bei der Verwirklichung unterstützten. Leonhart, zu dessen Inspirationsquellen Gil Evans, Quincy Jones, Gary McFarland, Johnny Mandel und Henry Mancini gehören, schrieb die wunderbaren Arrangements für ein 23-köpfiges Ensemble, das mit Musikern aus dem Dunstkreis des Avantgardisten John Zorn (u.a. Steven Bernstein, Kenny Wollesen, Erik Friedlander, Ben Goldberg) gespickt ist. Das Repertoire des Albums ist von einer seltenen Bandbreite: unter fünf eigene Songs und eine Handvoll Jazzstandards mischte Cline Werke von Modernisten wie Jimmy Giuffre, Annette Peacock, Gabor Szabo und Michel Portal, aber auch Stücke von Sonic Youth (Cline arbeitete mehrfach mit Thurston Moore und Lee Ranaldo zusammen), dem New Yorker Art-Rock-Duo Ambitious Lovers und dem obskuren italienischen Komponisten Daniele Paris. Herausgekommen ist ein Liebesalbum der wirklich ungewöhnlichen Art, das ebenso modern wie zeitlos ist.