Melissa Aldana | News | Reise ins Innere: auf der Suche nach einem eigenen Sound

Reise ins Innere: auf der Suche nach einem eigenen Sound

Auf “12 Stars”, ihrem Solodebütalbum für Blue Note, setzt sich die chilenische Tenorsaxophonistin Melissa Aldana mit sehr persönlichen Themen und Tarot auseinander.
Melissa Aldana
Melissa Aldana(c) Eduardo Pavez
11.03.2022
Das Album auf CD, LP und in exklusiver Sonderedition sowie weiteres von Blue Note finden Sie in unserem JazzEcho-Store
“Eine der aufregendsten jungen Tenorsaxofonistinnen der Gegenwart”, so urteilte die New York Times schon 2018 über Melissa Aldana. Vier Soloalben hatte die damals 29-Jährige zu diesem Zeitpunkt bereits veröffentlicht. Und das fünfte, “Visions”, das der jungen Chilenin 2020 ihre erste Grammy-Nominierung für das beste improvisierte Jazzsolo einbringen sollte, befand sich gerade in Arbeit. Ihr Profil als Solistin und Komponistin konnte Melissa parallel außerdem in dem weiblichen All-Star-Ensemble Artemis schärfen, zu dessen Gründungsmitgliedern sie 2017 gehört hatte. Die von der Pianistin Renee Rosnes geleitete sechsköpfige Band, zu der als Gast gelegentlich noch die Sängerin Cécile McLorin Salvant stößt, legte 2020 ihr gleichnamiges Debütalbum bei Blue Note vor, das weltweit Schlagzeilen machte. Von Melissa Aldana war Blue-Note-Boss Don Was so begeistert, dass er sie vom Fleck weg auch als Solokünstlerin bei dem Label unter Vertrag nahm. Jetzt präsentiert sie dort mit “12 Stars” ihr erstes Album, auf dem sie sich mit sehr persönlichen Themen und Tarot auseinandersetzt. Der Titel ist eine Anspielung auf die Tarot-Trumpfkarte “Die Herrscherin”, die eine Krone mit zwölf Sternen trägt und für Fruchtbarkeit, Mütterlichkeit, Natur, Schönheit und Üppigkeit steht, aber auch reinen Hedonismus bedeuten kann.
Unmittelbar vor dem Corona-Lockdown hatte sich Melissa von ihrem Ehemann getrennt. Plötzlich alleine zu Hause, nutzte sie die Zeit für eine tiefgehende Selbstreflexion, aber auch dazu, neue musikalische Konzepte auszuprobieren und an ihrer Phrasierung auf dem Saxofon zu feilen. “Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, mich intensiv mit dem Klang zu beschäftigen”, erzählt sie. “Ich bin mir sehr bewusst geworden, was ich mag und was nicht – darüber habe ich sehr viel nachgedacht. Und wenn ich mir dieses neue Album anhöre, weiß ich, dass ich einen Schritt nach vorne gemacht habe. Und das inspiriert mich sehr, weiter am Sound zu arbeiten und zu versuchen, das zu finden, was ich durch ihn aussagen möchte.”
Begleitet wird Melissa Aldana auf dieser faszinierenden Reise in ihr Inneres von dem norwegischen Gitarristen und Sound-Tüftler Lage Lund, der das Album auch produzierte und bis auf eine alle Kompositionen gemeinsam mit Aldana schrieb, dem Pianisten Sullivan Fortner, Schlagzeuger Kush Abadey sowie ihrem Landsmann und langjährigen Bassisten Pablo Menares. Im Zusammenspiel mit ihnen findet Melissa Aldana hier genau die richtige Balance zwischen tonaler Fragilität und kraftvoll zupackendem Spiel, zwischen berückendem Lyrismus und improvisatorischer Ungebundenheit.
Der Jazz scheint Melissa Aldana schon von Geburt an durch die Adern zu fließen. Mit nunmehr 33 Jahren ist sie das jüngste Mitglied einer kleinen, aber feinen Saxofonisten-Dynastie, die seit etlichen Jahrzehnten in der Jazzszene der chilenischen Hauptstadt Santiago tonangebend ist. Ihr Großvater Enrique “Kiko” Aldana spielte in den 50er und 60er Jahren u.a. in dem populären Orquesta Huambaly Tenor- und Baritonsax. Später reichte er das Zepter an Melissas Vater Marcos Aldana weiter, der sich erst als Bebopper profilierte und danach Jazz-Rock machte. Bereits mit sechs Jahren, als ihre Freundinnen noch mit Puppen spielten, übte Melissa unter der Anleitung von Marcos fleißig auf dem Altsaxofon und träumte in kindlicher Bescheidenheit davon, eines Tages in die Fußstapfen von Charlie Parker oder Cannonball Adderley zu treten.
Dann entdeckte sie Sonny Rollins und wechselte zum Tenorsax. Ihren ersten öffentlichen Auftritt absolvierte sie mit neun Jahren, begleitet von gestandenen Musikern aus dem Umfeld ihres Vaters. Und von dann an ging es für sie immer steiler nach oben. Als sie 16 Jahre alt war, entdeckte sie der Pianist Danilo Pérez und lud sie dazu ein, mit ihm bei einem Festival in seiner Heimat Panama aufzutreten. Über Pérez gelangte sie auch ans Berklee College in Boston, wo sie u.a. unter Joe Lovano und Greg Osby studierte. Als 22-Jährige brachte sie 2010 mit “Free Fall” ihr erstes Album heraus. Der große Durchbruch gelang ihr dann 2013, als sie die Thelonious Monk International Jazz Saxofone Competition gewann.
Melissa schrieb damals gleich in doppelter Hinsicht Geschichte: zum einen war sie die erste Frau, die sich in dieser Instrumentenkategorie behaupten konnte, zum anderen auch die erste Preisträgerin aus Südamerika bei diesem Wettbewerb überhaupt. Ihr eigener Vater hatte es 1991 “nur” ins Semi-Finale geschafft.
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