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Herbie Hancock – River: The Joni Letters

26.09.2007
Etwas, das Joni Mitchell und Herbie Hancock mit anderen großen Künstlern des 20. Jahrhunderts – wie etwa Miles Davis, Wayne Shorter oder auch Pablo Picasso – gemein haben, ist die nie nachlassende kreative Rastlosigkeit, die ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist. All diese Künstler besaßen seit jeher ein unstillbares Verlangen, ja, einen nachgerade unausweichlichen Drang mit jeder gespielten Note oder jedem Pinselstrich Neuland zu erkunden. Es war genau diese Art von künstlerischer Neugier, die Davis 1963 dazu motivierte, den damals 23jährigen Herbie Hancock gemeinsam mit Wayne Shorter, Ron Carter und Tony Williams in sein Quintett zu holen. Das Quintett ging als eines der wichtigsten Ensembles des 20. Jahrhunderts in die Geschichte des Jazz und der Musik im Allgemeinen ein. Davis war es auch, der Hancock empfahl “eine Sache nie zu beenden”. Hancock hat, ähnlich wie Joni Mitchell, mit den verschiedensten Genres und Mitteln experimentiert, um seiner unermüdlichen Neugier Ausdruck zu verleihen. Er profilierte sich nicht nur als Jazzmusiker, sondern auch in den Bereichen der elektronischen Musik, des Funk, der Orchester- und Filmmusik. Auf “River: The Joni Letters” präsentiert er nun – mal mit Gesang, mal rein instrumental – eine Kollektion von Songs, die Joni Mitchell entweder selbst komponiert hat oder die sie bei ihrer kompositorischen Arbeit beeinflußt haben.
Herbie Hancock und Joni Mitchell arbeiteten das erste Mal zusammen, als die Sängerin und Songschreiberin 1978 ihr Album “Mingus” aufnahm.  Das Album war Produkt einer Zusammenarbeit zwischen Joni und dem damals bereits schwerkranken legendären Bassisten und Komponisten Charles Mingus, der noch vor der Veröffentlichung des Werks im Juni 1979 starb. Gemeinsam mit Wayne Shorter, Bassist Jaco Pastorius und Schlagzeuger Peter Erskine (damals Shorters Partner bei Weather Report) sowie den Perkussionisten Don Alias und Emil Richards war Hancock Teil eines kleinen Ensembles, mit dem Mitchell versuchte einen neuen Ansatz für die Vermählung von Lyrik und instrumentalem Jazz zu schaffen. Hancock begleitete Joni Mitchell – die seit langem eine der Ikonen der amerikanischen Musik ist – auch auf ihren letzten beiden Alben “Both Sides Now” (2000) und “Travelogue” (2002). Als Joni kurz nach ihrem 59. Geburtstag “Travelogue” herausbrachte, deklarierte sie es zu ihrem letzten Album. Daß sie dieses Jahr unter dem Titel “Shine” doch wieder eine neues Album präsentiert, dürfte die gesamte Musikwelt freuen.
 
“Ich bin jetzt an einem Punkt in meiner Karriere angelangt, wo ich etwas machen möchte, das die Leute in ihrem Innersten berührt,” meint Hancock. Für “River: The Joni Letters” ging der Pianist mit dem Produzenten, Arrangeur und Bassisten Larry Klein (Mitchells langjährigem Produzenten und kreativen Partner, der auch Alben von Madeleine Peyroux , Shawn Colvin u.v.a. produzierte) in Klausur, um aus dem beachtlichen Œuvre der Songschreiberin die Stücke auszuwählen, die sich ihrer Meinung nach am besten für eine genreungebundene musikalische Annäherung und einen kommunikativen Austausch der Musiker eigneten. Gleichzeitig wollten die beiden aber auch die Bandbreite von Mitchells Talenten als Musikerin, Komponistin und Poetin porträtieren. Um ihrem Bild von Mitchells musikalischer Welt eine weitere Dimension zu geben, griffen sie außerdem zwei ihrer erklärten Lieblingskompositionen auf, die großen Einfluß auf ihre eigene musikalische Entwicklung hatten: Wayne Shorters asymmetrisches Meisterwerk “Nefertiti”, das Hancock und Shorter 1967 erstmals für den Miles-Davis-Klassiker mit dem gleichen Namen eingespielt hatten, und Duke Ellingtons melancholischen Standard “Solitude”. Bedauerlicherweise konnte Joni, weil sie zu sehr mit der Arbeit an ihrem eigenen neuen Album “Shine” (das am exakt selben Tag wie “River: The Joni Letters” erscheinen soll) beschäftigt war, Hancocks Wunsch, einen Text zu “Nefertiti” zu verfassen und dann eine Vokalversion mit der Band aufzunehmen, nicht nachkommen.
 
Hancock und Klein nahmen sich einige Monate lang Zeit, um in aller Sorgfalt Mitchells Musik und Texte zu studieren, bis sie schließlich die Songs herausgefiltert hatten, von denen sie hofften, daß diese einen umfassenden Überblick über das Werk der Poetin gäben. Dann stellten sie aus einigen der besten Jazzmusiker der Welt eine All-Star-Band zusammen. Der unvergleichliche Sopran- und Tenorsaxophonist Wayne Shorter, der seit den Aufnahmen von “Mingus” ständiger Gast auf Mitchells Alben gewesen ist, war natürlich erste Wahl. So wie der Schlagzeuger Vinnie Colaiuta, der ebenfalls ein langjähriger musikalischer Begleiter der Sängerin war und – im Wechsel mit Terri Lyne Carrington – Mitglied von Hancocks aktueller Band ist. Komplettiert wurde das absolut hochkarätige Quintett durch den brillanten Bassisten Dave Holland, der einst mit Hancock und Shorter Teil der Miles Davis Group war, und den aus dem Benin stammenden Gitarristen Lionel Loueke, der momentan auch Hancocks Band angehört und gerade einen Plattenvertrag von Blue Note erhielt.
 
Dann gingen Hancock und Klein daran, Arrangements für Songs wie das häufig gecoverte “Both Sides Now” (auf Jonis Website werden nicht weniger als 537 Aufnahmen genannt!) und das weniger bekannte “Sweet Bird” (von Jonis oft übersehenem 1975er Klassiker “The Hissings Of Summer Lawns”) zu fertigen. Arrangements, die diese Songs in lyrische und elegante instrumentale Tongedichte transformierten und bar von den Fallen konventioneller Jazzaufnahmen waren. “Wir wollten ein neues Vokabular kreieren, einen neuen Weg finden, in einem musikalischen Sinne zu sprechen”, erläutert Herbie Hancock. “Wir benutzten die Worte als Leitfaden”, fügt Larry Klein an. “Die gesamte Musik entstand aus der Poesie.” Die beiden hatten schließlich auch noch das Gück, für die vokalen Interpretationen diverser Songs einige der großartigsten Sänger/innen der Musikwelt gewinnen zu können: Joni höchstpersönlich trägt ihre autobiographischen Kindheitsüberlegungen von “The Tea Leaf Prophecy” vor, Tina Turner schafft aus der wunderbaren Prosa von “Edith And The Kingpin” einen zeitlosen Song noir, Norah Jones singt den wehmütigen Klassiker “Court And Spark”, die junge britische Soul-Hoffnung Corinne Bailey Rae verwandelt das traurige Weihnachtslied “River” in ein unschuldiges und optimistisches Poem von bittersüßer Romantik, die Brasilianerin Luciana Souza leiht “Amelia” ihre dunkle Stimme und Leonard Cohen rezitiert, nur vom improvisierenden Hancock am Flügel begleitet, die brillanten und surrealistischen Lyrics von “The Jungle Line”.
 
“River: The Joni Letters” war für Herbie Hancock eine Reise in eine neue Welt. Eine Welt der Worte, die er zumindest in dieser Intensität noch nie erkundet hatte.
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