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Von Angesicht zu Angesicht – Improvisierte Dialoge zwischen Kontrabass und Elektronik

Auf “Face à Face” wandert der Kontrabassist Barre Phillips im Duo mit dem Synthesizer-Spieler György Kurtág Jr. durch abstrakte elektroakustische Klanglandschaften.
Barre Phillips
Barre Phillips
18.08.2022
Barre Phillips gilt als der Doyen der improvisierten Musik auf dem Kontrabass und Großmeister des Solospiels. Sein 1968 erschienenes Album “Journal Violone” gilt als das erste Solo-Bass-Album überhaupt und war der Auftakt für eine Serie mit “tagebuchartigen Erkundungen des Kontrabasses”. Genau 50 Jahre später schloss Barre Phillips den Kreis dieser Soloaufnahmen 2018 mit dem ECM-Album “End to End”. Auf “Face à Face” legt er den Schwerpunkt in Improvisationen mit György Kürtág Jr. nun wieder auf Zusammenarbeit, Dialog und gemeinsames Schaffen.
Der ungarische Komponist und Improvisator, der bei ECM zuletzt mit dem Album “Kurtágonals” zu hören war, beschreibt seine musikalische Beziehung zu Barre als “eine der wichtigsten meines Lebens”. Und auf “Face à Face” ist sofort zu hören, dass die beiden Musiker ein fortgeschrittenes Verständnis gemein haben. Es ist ein Verständnis, das über Jahre hinweg geduldig aufgebaut wurde. 2014 begannen sie damit, ihr Duo-Projekt mit Kontrabass, Synthesizern und digitaler Perkussion zu entwickeln, das strukturell sowie dynamisch fesselnd ist. Und es ist schlicht faszinierend, es seitdem zu verfolgen.
“Das erste Bild, das mir in den Sinn kommt, um die Art und Weise zu charakterisieren, wie ich mit Barre zusammenspiele, ist architektonisch”, sagt Kurtág in den Liner Notes des Albums. “Ich habe es mit einem Musiker zu tun, dessen Spiel und Phrasierung sich ständig und auf eine absolut unvorhersehbare Weise verändert. Um mit seiner Musik in Beziehung zu treten, betrachte ich sie als ein sich bewegendes Individuum und errichte Zimmer aus Zeit und Raum um ihn herum. Räume, die sich selbst in ständiger Entwicklung befinden. Ich könnte auch sagen, dass ich einen Schatten erschaffe, den Schatten von Barres Kontrabass, von seinem Spiel… aber es ist ein dynamischer Schatten, in den ich ‘Attraktoren’ platziere, das heißt: Hinweise, Richtungen, die befolgt werden oder nicht, die aber dazu beitragen, die Intensität des Dialogs zwischen uns aufrechtzuerhalten.”
Ihre musikalischen Ausgangspunkte liegen weit auseinander. Der in San Francisco geborene Barre Phillips durchstreifte in den 1960er Jahren die Extreme des New Jazz, mal in der Band von Archie Shepp, dann als Teil des Jimmy Giuffre 3 oder als Mitglied des Septetts von Chris McGregor.  Als Sohn des bedeutenden Komponisten György Kurtág und der Pianistin Márta Kurtág wuchs Kurtág Jr. wiederum in einem Haus in Budapest auf, in dem er von klein an von klassischer Musik umgeben war.
In Phillips’ Biografie gibt es Hinweise, dass er schon früh daran interessiert war, Elektronik als Quelle für neue Klänge einzusetzen. Seine Aufnahmen für “Journal Violone” (das Album erschien in England unter dem Titel “Unaccompanied Barre” und in Frankreich als “Basse Barre”) waren ursprünglich als Grundmaterial für die elektronische Umsetzung durch den Komponisten Max Schubel gedacht gewesen. Auf “Aquarian Rain” kam es 1992 zu einer Zusammenarbeit mit den elektroakustischen Komponisten James Giroudon und Jean-François Estager, bei der Barres Bass einer Tonbandcollage gegenübergestellt wurde. Und “Mountainscapes”, Barres ECM-Meisterwerk von 1976, enthält einfühlsame Duette mit dem Synthesizer-Spieler Dieter Feichtner, die man als Vorgeschmack auf die Klangwelt von “Face à Face” betrachten könnte.
Obwohl Phillips sich zu Beginn seiner Karriere vor allem einen Namen als “Jazzer” machte, waren seine musikalischen Leidenschaften immer schon breiter angelegt. “Ich war von Bartók, Schönberg und Strawinsky genauso begeistert wie von Duke Ellington, Charlie Parker und Ornette Coleman”, sagte er. “Die beiden Einflüsse nahmen in meinem Kopf etwa gleich viel Platz ein.” Barres lange Geschichte mit ECM begann 1971 auf “Music From Two Basses” im Duo mit Dave Holland und umfasste seither Kollaborationen mit u.a. Terje Rypdal, John Surman, Paul Bley, Evan Parker und Joe Maneri.
György Kurtág Jr. verließ Ungarn in den frühen 1980er Jahren und ging nach Frankreich, um am IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) in Paris Musikforschung zu betreiben. Dort hatte er die Gelegenheit, mit Peter Eötvös, Mauricio Kagel, Tod Machover, David Wessell, George Lewis und anderen zu arbeiten. In dieser Zeit verlagerten sich seine Interessen allmählich von einer zeitgenössischen Kompositionsperspektive zu einer umfassenderen Sichtweise, die Instrumentenbau und Improvisation einschloss.
Seitdem hat er seine Arbeit an vielen verschiedenen Fronten fortgesetzt. Gemeinsam mit seinem Vater György Kurtag Sr. schuf er eine “elektronische Hybridkomposition” namens “Zwiegespräch” für Streichquartett und Synthesizer, die später mit dem Arditti Quartet und dem Keller Quartet aufgeführt wurde. (Das Werk sollte nicht mit dem fast gleichnamigen Album “Zwiegespräche” verwechselt werden, dass György Kurtag Sr.  2019 mit Heinz Holliger für ECM gemacht hat.)
Das 2009 in der ECM New Series erschienene Album “Kurtágonals” stellte Stücke, die Kurtág Jr. über einen Zeitraum von dreißig Jahren geschrieben hatte, in einen neuen Kontext. 2010 gewann Kurtág Jr. mit seinem Trio Sc.Art für “The Well-Tempered Universe” in Ungarn den Preis für das beste zeitgenössische Klassikalbum des Jahres.
Barre Phillips gründete 2015 das Centre Européen Pour l’Improvisation (CEPI) in Puget Ville in der Provence, um dort kreative Ansätze des Musikmachens zu erkunden. György Kurtág Jr. stand in diesem Zusammenhang in ständigem Austausch mit Barre, übernahm schließlich die Leitung des Zentrums und spielte mit dem Bassisten auch in einem großen Ensemble zusammen, den Cepi Nomads, dass aus den Mitgliedern der Vereinigung besteht.
Das elektronische Instrumentarium, das György Kurtág Jr. auf “Face à Face” einsetzt, besteht aus Yamaha DX7 IIFD, Korg T3 und Roland JD800-Synthesizern, ergänzt durch Roland Handsonic Digital Percussion. Kurtág Jr. lokalisiert und projiziert mit seinen Instrumenten Klänge, um so mit Barre Phillips’ unendlich kreativem Bassspiel in einen Dialog zu treten. Der transparente Mix und die Produktion von Manfred Eicher machen diese Begegnung auf plastische Weise greifbar und ermuntern den Hörer dazu, der Entwicklung der Musik in all ihren Details zu folgen.
György Kurtág Jr. ist als Komponist und Klangforscher weiterhin in der französischen Region Bordeaux aktiv.
Barre Phillips kehrte Anfang 2022 nach mehr als 50 Jahren in Frankreich in die Vereinigten Staaten zurück und lebt derzeit lebt in New Mexico.