ECM Sounds | News | Ungeplant, aber alles andere als planlos: Improvisationskunst auf höchstem Niveau

Ungeplant, aber alles andere als planlos: Improvisationskunst auf höchstem Niveau

Nachdem er drei seiner letzten ECM-Alben im Trio mit Paolo Vinaccia und Tommy Smith eingespielt hatte, präsentiert sich der Bassist Arild Andersen auf “Affirmation” mit einem neuen norwegischen Quartett.
Arild Andersen Group
Arild Andersen Group
Seit über fünfzig Jahren gehört Arild Andersen, der von vielen internationalen Kritikern als der beste Kontrabassist der norwegischen Jazzszene bezeichnet wird, zu den prägenden Künstlern von ECM Records.
In diesem Zeitraum war er auf mehr als dreißig Alben des Münchener Labels zu hören, entweder als Leader mit eigenen Bands oder als gefragter Sideman anderer ECM-Größen. Dabei stellte er sich stets neuen Herausforderungen, so wie er dies nun auch auf seinem neuesten Album “Affirmation” tut. Aufgenommen hat er dies im November 2021 im Osloer Rainbow Studio mit einem neuen Quartett, bestehend aus Tenorsaxophonist Marius Neset, Pianist Helge Lien und Schlagzeuger Håkon Mjåset Johansen.
Aufgrund der von Norwegen verhängten Reisebeschränkungen war es Manfred Eicher nicht möglich, im Studio dabeizusein. Folglich waren die Musiker auf sich allein gestellt und wollten eigentlich ein paar von Arild Andersens neuen Stücken einspielen. Doch am zweiten Tag der Aufnahmesession schlug der Bassist seinen Mitstreitern vor, einfach einmal gemeinsam von Grund auf zu improvisieren. “Ohne etwas geplant zu haben, nahmen wir einen ersten Teil von etwa 23 Minuten Länge und einen zweiten Teil von etwa 14 Minuten Länge auf.” Und diese ausgedehnten Improvisationsbögen wurden dann zum neuen Schwerpunkt des Albums. “Affirmation Part I” und “Affirmation Part II” werden hier ungekürzter Länge präsentiert. Abgerundet wird das Album durch Andersens Komposition “Short Story”.
“Obwohl das Quartett bereits eine Reihe von Konzerten gegeben hatte und wir viel zusammen gespielt hatten, haben wir nie zuvor ein ganzes Set nur mit improvisierter Musik bestritten”, sagt Andersen. “Das Konzept, erst einmal zuzuhören, bevor man spielt, ist hier sehr präsent, auch dass jeder Ideen einbringt, bei denen das Zusammenspiel im Mittelpunkt steht. Ich habe das Album ‘Affirmation’ genannt, weil man sich selbst vertrauen muss und den anderen ebenso sehr.”
Frei improvisierte Musik ist natürlich seit langem ein wichtiger Bestandteil von Andersens Arbeitsmethode. Sie spielte schon in den frühen 1970ern bei seiner Zusammenarbeit mit Jan Garbarek und Edward Vesala im “Triptykon”-Projekt und auch bei den energiegeladen Interaktionen im Trio von Sam Rivers eine entscheidende Rolle. Jetzt stellt sich Arilds neue Band auf ihre eigene Weise dieser Herausforderung, indem sie subtil und ad hoc Formen findet und gestaltet. Um den Hörern bessere Orientierung zu verschaffen, zeigen Indexpunkte an, wo die Musik eine neue Richtung einschlägt. Doch die beste Art, “Affirmation” zu hören, ist natürlich, wenn man der Musik einfach vom Anfang bis zum Ende folgt.
Es ist Arild Andersens Bass, der gleich zu Beginn von “Affirmation Part I” den Fluss der Ideen in Bewegung setzt. Ideen, die bald von Helge Liens perlendem Klavier und Håkon Mjåset Johansens sanften, farbigen Beckenspritzern ausgeschmückt werden. Nachdem sich auch Marius Neset mit einer Meditation über ein sich wiederholendes Motiv dazugesellt hat, verleiht Arild der Musik einen fast schon orchestralen Rahmen, zunächst mit seinem gestrichenen Bass, dann kurz mit über Pedal gesteuerten Effekten, bei denen er akustische und elektronische Klangfarben miteinander vermischt. Die Musik entfaltet sich immer weiter.
Das Quartett hat dabei eine Vielzahl von Optionen zur Disposition. Die Musiker verstehen es, Räume zu nutzen, sich zurückzunehmen und Spannung aufrechtzuerhalten. Aber jeder einzelne von ihnen hat auch ein starkes rhythmisches Gespür. So treiben tatsächlich alle vier Musiker dieses Ensemble an und sind allesamt auch gleichermaßen Solisten; zusammen erreichen sie einige kraftvolle Höhepunkte. “Affirmation Part II” beginnt mit Mjåset Johansens Schlagzeugspiel und entwickelt sich schnell zu einem lebhaften Dreiergespräch mit Andersen und Lien, bevor Neset in Erscheinung tritt und die energiegeladene Atmosphäre intensiviert. Diese wird bis zum letzten Abschnitt der improvisierten Musik aufrechterhalten, der dann in einer elegischen Stimmung ausklingt. Andersens “Short Story”, ein nachdrücklich melodisches Stück, beschließt das Album.
Seinen Einstand bei ECM gab Arild Andersen 1970 als Mitglied des Jan Garbarek Quartet auf dem Album “Afric Pepperbird”, das seit langem als ein Klassiker des neuen Jazz gilt. Anerkennung fand er nicht nur als großartiger Jazzbassist (“Mein Ziel war es immer, den Kontrabass zum Singen zu bringen.”) und ideenreicher Komponist, sondern auch als Bandleader mit einem sicheren Gespür für neue Talente. Durch seine Ensembles erlangten im Laufe der Jahrzehnte viele norwegische Improvisationsmusiker international Bekanntheit. In seinem gegenwärtigen Quartett hat Arild Andersen (Jahrgang 1945) Musiker zweier nachfolgender Generationen um sich gesammelt: Helge Lien und Håkon Mjåset Johansen wurden beide 1975 geboren und Marius Neset 1985. Neset und Lien sind auch selbst Bandleader, während Mjåset Johansen derzeit einer der gefragtesten Schlagzeuger der Szene ist und in den unterschiedlichsten Kontexten mit großen Bands und kleinen Ensembles spielt.
Der dynamische Marius Neset, dessen mächtiger Sound im Guardian schon mit dem von Michael Brecker verglichen wurde, gehört zu den markantesten Tenorsaxophonisten der Gegenwart. Neset lernte Schlagzeug, bevor er auf das Tenorsax umstieg. Und so ist es nicht verwunderlich, dass er in seinem Saxophonspiel ein ausgeprägtes rhythmisches Gespür offenbart. Er hat bisher Aufnahmen für Labels wie Edition, ACT und Chandos eingespielt. Zuletzt wurde er aber auch für seine Kompositionen gelobt, die er u.a. mit dem Bergen Philharmonic Orchestra und der London Sinfonietta aufgenommen hat.
Pianist Helge Lien wuchs mit Jazz und skandinavischer Folkmusik auf und vereinte diese Elemente in seinem populären Trio, das vom Dagbladet als “das beste norwegische Klaviertrio seit langem” bezeichnet wurde. Er war Mitglied des Tri O’Trang, begleitete u.a. die Sängerinnen Silje Nergaard und  Live Maria Roggen, war gemeinsam mit dem Schlagzeuger Gard Nilssen Teil des Arild Andersen Trios und unterhält außerdem seit kurzem ein Duo mit dem Dobro-Gitarristen Knut Hem. Darüber hinaus ist Lien ein leidenschaftlicher Fotograf und steuerte die Fotos zum Booklet von “Affirmation” bei.
Den aus Trondheim stammenden Schlagzeuger Håkon Mjåset Johansen lernte das Jazzpublikum durch seine Mitwirkung in der Band Motif kennen, der u.a. auch Mathias Eick und Ole Morten Vågan angehörten. Bei Auftritten mit dem Trondheim Jazz Orchestra begleitete er zudem Gastsolisten wie Chick Corea und Seamus Blake.